In der Stuttgarter Liederhalle: Musikfest-Finale mit Beethoven Foto: Schneider

Am Samstag ging das Musikfest 2015 mit Schillers und Beethovens „Ode an die Freude“ im Beethovensaal zu Ende. Vorher feierte das Minguet-Quartett den bevorstehenden 80. Geburtstag Helmut Lachenmanns und seines Komponisten Georg Katzer, und das Gershwin Piano Quartet ließ die Tasten rauschen.

Gershwin zu Ehren: Vier Flügel sind kein Streichquartett. Stehen vier Tasteninstrumente neben- und hintereinander auf der Bühne, dann geht es nicht um Konzentration und Entschlackung, sondern um Wirkung, um Vergrößerung und Verbreiterung von Klang. Mit beidem und etlichen exzellenten Arrangements hat am späten Freitagabend das Zürcher Gershwin Piano Quartet für Jubel im (leider nur schütter besuchten) Hegelsaal gesorgt. Schon Rachmaninows Vocalise und Tarantella drückten emotional mächtig auf die Tube, und in der Bearbeitung dreier Sätze aus Prokofjews „Leutnant Kije“-Suite bewiesen die vier exzellent aufeinander eingespielten Musiker, dass nicht nur ihr Name, sondern auch ihre Interpretationen selbst darauf abzielen, auf lustvoll-spielerische Weise Verwirrung zu stiften: So wie ein Klavierquartett korrekt eigentlich ein Streichtrio mit Klavier ist, so enthält Prokofjews Musik eigentlich nicht jene Zutaten von Schostakowitsch und Keith Jarrett, die hier auch zu hören waren. Es war aber gerade dieses Unkorrekte, Grenzenüberschreitende, das diese Vorführung eines pianistischen Vierradantriebs besonders machte, und weil die Pianisten auch die Barrieren zwischen Pop, Jazz und Klassik überwanden.

Lachenmann auf der Spur: Da trafen wirklich gegensätzliche moderne Klangwelten aufeinander im Konzert des Minguet Quartetts am Samstagnachmittag im Mozartsaal: Einerseits spielten die Kölner Georg Katzers gestisch sehr expressives 1. Streichquartett (von 1965), das bei allen dissonanten Klangreibungen, schreienden Akkorden, grellen Schraffuren doch auch sehr melodisch und fasslich ist. Andererseits Helmut Lachenmanns „Gran Torso“ (von 1971), in dem kein klar definierter Klang zu hören ist, sondern nur die Schatten von Tönen: die geräuschhaften Nebenprodukte der Tonerzeugung. Die akustischen Vorgänge werden durch Klopfen, Schaben und Streichen des Bogens auf allen Teilen der Instrumente genau analysiert: ob Knarzen, ob Knacken, das nach brechenden Knochen klingt, ob flötenartiges Flüstern. Die Reduktion geht bis zur bloßen Geste des Streichens. Kein Ton ist dann mehr hörbar.

Das Minguet Quartett, Spezialist für Neue Musik, kann beides ganz hervorragend: das kantable, intensive, eindringliche Spiel genauso wie jene Spieltechniken, die Töne zu verhindern haben. Und die Kommunikation funktioniert perfekt zwischen Primarius Ulrich Isfort, Annette Reisinger (Violine), Aroa Sorin (Viola) und Matthias Diener (Cello).

Das Konzert war als Hommage gedacht für Katzer und Lachenmann, zwei ganz Große der zeitgenössischen Musik, die in diesem Jahr 80 Jahre alt werden. Schön, dass das Programm durch Mendelssohns letztes Streichquartett f-Moll op. 80 ergänzt wurde. Gerade dieses Werk, in dem Mendelssohn den Tod seiner Schwester Fanny beweinte, zeigt das zukunftweisende Potenzial dieses Komponisten, das Minguet wunderbar herausarbeitete: seine erbarmungslos vorwärtstreibende Kraft, seine Schroffheit und Härte, seine fahlen Farben und extreme emotionale Zerrissenheit. (vgr)

Beethovens Neunte: Noch so ein eingeschliffenes Ritual unseres Musikbetriebs: An manchen Tagen, allen voran zu Silvester oder zum Abschluss des diesjährigen Musikfestes in Stuttgart, muss ganz einfach Beethovens neunte Sinfonie d-Moll op.125 aufs Konzertprogramm. Als von der deutschen Arbeiterbewegung begründete Jubel- und Festmusik verspricht der utopische „Alle Menschen werden Brüder“–Appell wenigstens ein Mindestmaß an Erbauung, gerade weil die politische Realität dem „Seid umschlungen, Millionen“-Pathos von Beethoven/Schillers Neunter mehr denn je spottet. Als Zeichen der Gast-„Freundschaft“ waren – in Anwesenheit von Ministerpräsident Winfried Kretschmann – 90 Flüchtlinge und ihre Betreuer von der Bachakademie am Samstagabend in den Beethovensaal eingeladen worden.

Immerhin stand mit Stéphane Denève ein Musiker am Pult des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR, der sich mit repräsentativer Pflichterfüllung nicht zufriedengab. Formal gerundet gelang ihm die Neunte in ihrer gesamtzyklischen Anlage. Geschickt variierte er die Tempi innerhalb eines flüssigen Grundmetrums und ließ – trotz gelegentlicher Unschärfezonen – seine Radiosinfoniker ohne größere Interventionen ausspielen, führte die Gächinger und Stuttgarter Kantorei sowie den Philharmonia Chor Stuttgart (Einstudierung Johannes Knecht) zwischen Verzückung und Raserei sicher durch das „Freude, schöner Götterfunken“-Finale.

Den hoch dramatischen, als Tragödie in einen Trauermarsch mündenden Eingangssatz, Maestoso, entwickelte Denève eher unaufgeregt. Das Hauptthema wurde nicht als allmähliches Werden geboten, sondern als locker musiziertes Portal. Der zweite Satz kam ohne die sonst übliche panische Getriebenheit aus. Diesem „Molto vivace“, von Beethoven bewusst nicht als Scherzo bezeichnet, ließ er ein warmherziges, elegisches „Adagio molto e cantabile“ folgen voller ruhig fließender Gestalten mit eher sparsamer Espressivo-Verdichtung.

Das Freuden-Finale nahm der Franzose sehr rasch, ohne das Konfliktpotenzial der Sinfonie mit ihren zerklüfteten Durchführungsteilen und auffahrenden Fortissimo-Schüben voll auszuspielen. Markus Eiche (Bass) trug seinen Text „Freunde, nicht diese Töne“ sehr selbstbewusst, fast wie eine Rolle vor, und die „holden Flügel“ führten Sabina Cvilak (Sopran) leidlich sicher in höchste Register, was auch für Brenden Gunnells tenorale Ausflüge galt, denen sich unauffällig Daniela Sindram (Alt) hinzugesellte.

Insgesamt blieb Stéphane Denèves lichte, alles andere als auf einen dunkel-expressiven „deutschen“ Orchesterklang bauende Wiedergabe eine Fata Morgana der Menschheitsverbrüderung. Eine Utopie eben.

Aufzeichnung am Samstag, 26. Dezember 2015, SWR 2, Beginn 20.03 Uhr.