Hans-Christoph Rademann und das Orchester der Gaechinger Cantorey beim Abschlusskonzert im Stuttgarter Beethovensaal Foto: Holger Schneider

Nach zwei Wochen Konzerten, Gesprächen und Vorträgen zum Thema „Krieg und Frieden“ ist das Musikfest Stuttgart der Internationalen Bachakademie am Sonntagabend mit einem umjubelten Händel-Abend im Beethovensaal zu Ende gegangen.

Stuttgart - Plötzlich, ganz plötzlich, kommt einem Alois Hingerl in den Sinn. Also jener Münchner, den Ludwig Thoma 1911 in einer berühmt gewordenen Satire in den Himmel beförderte, wo der griesgrämige Grantler prompt kreuzunglücklich war: weil sich das Tagesprogramm dort nämlich schlicht darauf beschränkte, von acht Uhr früh bis zwölf Uhr mittags zu frohlocken und von zwölf Uhr mittags bis acht Uhr abends „Hosianna“ zu singen. Am Sonntagabend hat Hans-Christoph Rademann im Beethovensaal das zweiwöchige Musikfest Stuttgart mit einem Konzert zum Abschluss gebracht, in dem man sich zeitweilig fühlen mochte wie Alois Hingerl: Hin zu fast ungebrochenem Jubel hatte sich das Festival bewegt; von den französischen Revolutionskriegen der 1790er Jahre, denen sich im Eröffnungskonzert Werke von Joseph Haydn widmeten, hin zum Frieden von Utrecht 1713 hatte sich der Bogen gespannt, und nun, angekommen bei Georg Friedrich Händels Utrechter Te Deum (mitsamt dem folgenden „Jubilate“), war alles eitel Friede und Freude.

So wie sich Alois Hingerl bei Thoma in göttlichen Gefilden zum irdischen Gerstensaft hinsehnt, so mochte man im mit reichlich lokaler Prominenz, aber auch mit dem wohl ältesten Publikum Stuttgarts besetzten Beethovensaal von Widerständen träumen, von einer Konzertdramaturgie der Reibungen und Kontraste, die es an diesem durchaus affirmativen Abend aber nicht gab. Das war schade, und bedauerlich war außerdem wieder einmal die (zurzeit wohl unvermeidbare) akustische Situation im Beethovensaal, die bei einem mit historischen Instrumenten besetzten Ensemble eine Wahrnehmung vieler Feinheiten der Darbietung in der hinteren Hälfte des Parketts unmöglich macht. In Kombination mit dem trompetengekrönten Dauerglanz in der Musik schien der Saal die Bühne vom Zuschauerraum weg zu rücken, und so schlich sich eine merkwürdige Distanz in das Musikerleben ein. Sie lastete auf dem Festival-Finale, und dafür, dass sich die Kunst am Ende dann doch noch als viel stärker erwies, sorgte allein die exzellente Qualität der Aufführung.

Herzstücke sind die Solistenensembles und die Chorsätze

Zu dieser musste man freilich erst einmal gelangen. Der Anfang, die Suite aus Händels Oper „Il pastor fido“, krankte noch, zumal bei Tempowechseln, an kleineren Koordinationsproblemen im Orchester, und viele schöne solistische Momente (der pastoralen Oboe wie der virtuos geforderten Solovioline) zerstoben zudem – zumindest für Zuhörer in der Mitte des Saals – diffus im Raum. Bei der anschließenden, kaum je aufgeführten „Ode for the Birthday of Queen Anne“, hat dann erst einmal der Altus den eigentlich so wunderschön gleichsam aus dem Nichts kommenden Anfang versemmelt: Reginald Mobley konnte sich zwischen den Registern (nicht nur hier) nicht recht entscheiden, wirkte intonatorisch unsicher. Sehr gut fügte er sich dafür – neben der Sopranistin Christina Landshamer, dem Tenor Benedikt Kristjánsson und dem Bass Andreas Wolf, die allesamt sehr tonschön und genau gestalteten – in die sehr fein durchgearbeiteten Solistenensembles ein. Diese entpuppten sich auch im Utrechter Te Deum, bei dem Rademann die in der Mitte postierten Vokalisten auf sehr vorteilhafte Weise in den Gesamtklang integrierte, als eines der beiden Herzstücke der Aufführung.

Das andere Herzstück war der Chor. Sämtliche Werke des Konzertes entstanden in den Jahren 1712 und 1713, also in einer Zeit, in der sich bei Händel der italienische Einfluss zunehmend mit dem englischen vermischte. Die Musik wird schlichter, volkstümlicher, vollstimmiger, und das große Vorbild Henry Purcell zeigt sich – ganz besonders im „Jubilate“ – vor allem in den Chorsätzen.

Hans-Christoph Rademanns Detailarbeit kann man beim Chor besonders deutlich hören

Deren Farbeffekte und klangmalerische Textbezüge, deren harmonische wie melodische Eingängigkeit, ja Süffigkeit brauchen viel Genauigkeit in der Ausführung, um zu voller Wirkung zu gelangen, und eben diese Genauigkeit ließen die Sänger der Gaechinger Cantorey den Stücken angedeihen. Was für ein homogener, detailreich geformter, wohl austarierter Chorklang! Welch ausgefeilte Balance von artikulatorischer wie intonatorischer Präzisionsarbeit und natürlicher Anmutung! Welche Leichtigkeit im Miteinander (etwa im „O go your way into his gates“ des „Jubilate“)! Auch im Orchester hat Hans-Christoph Rademann Detailarbeit geleistet, aber im Chor kann man sie besonders deutlich hören.

Hinzu kamen wirkungsvoll ausgeformte Wort-Klang-Bezüge: beispielsweise beim fein abgesetzten „O Christ“ oder beim wie ein Messer in den Saal fahrenden „Todesstachel“ („the sharpness death“) im Te Deum. Oder auch etwa beim Duett von Sopran und Alt in der Geburtstagsode, wo sich, begleitet von einer Oboe, „das holde Wohlsein auf flaumigen Flügeln herab“ senkt. Sanfter, weicher kann seliges Schweben nicht klingen. Da mag man ihn dann wieder vor sich gesehen haben, den Alois Hingerl, wie er auf einer Wolke saß und beim Frohlocken mit der allzu reinen Schönheit haderte. Was für ein dummer Grantler. Wo er doch glücklich hätte sein können: einfach da sitzen, singen, lauschen und genießen.