Hans-Christoph Rademann und Musiker der Gaechinger Cantorey bei Monteverdis „Marienvesper“ Foto: Holger Schneider

„Reichtum“ ist das Motto des Musikfests Stuttgart 2016, und zum Auftakt gab es am Freitagabend im Beethovensaal Claudio Monteverdis musikalisch luxuriöse „Marienvesper“. Nur der Kirchenklang fehlte – und vielleicht auch ein wenig Weihrauch und Gelassenheit.

Stuttgart - Die Zeichen stehen auf Sturm. Eine Revolution bricht sich Bahn. Ein Jahrhundert endet, ein neues beginnt, und so wie dreihundert Jahre später um die Wende zum 20. Jahrhundert spricht man auch um das Jahr 1600 von neuer Musik. Im beginnenden Barock löst die bassgestützte Melodie das Gegeneinander mehrerer gleichberechtigter Stimmen ab, das die Musik der Renaissance geprägt hat, und in der Folge dient ausdrucksvoller Gesang der emotionalen Verstärkung vertonter Texte. 1610 hat sich Claudio Monteverdi mit einer Sammlung geistlicher Werke für einen Posten in Rom beworben (den er nicht erhielt). Die Parallele zu Bachs h-Moll-Messe, die ebenfalls ein Bewerbungsstück des Komponisten (für Dresden) war, ist insofern nicht ganz stimmig, als Bach in seinem Werk eine Summe zog, während Monteverdi vorausblickt und experimentiert. Das Stück, das wir heute als „Marienvesper“ kennen, ist kühn: ein ungeheures Wagnis.

Womit wir im Jahr drei der Zeitenwende bei der Internationalen Bachakademie Stuttgart angekommen wären. Auch Hans-Christoph Rademann ist erst einmal mit dem Bestehenden umgegangen, und 2016 wagt er nun den ästhetischen Umbruch – einen Schritt zurück (zu historisch informierter Stilistik und historischem Instrumentarium), der ein Schritt nach vorne sein soll. Wer auf der Höhe unserer Zeit sein will, muss auf der Höhe einer vergangenen sein; will er sich auf dem hart umkämpften Markt der Barockmusik profilieren, dann kann er dies nicht mit modernen Instrumenten tun. Deshalb wollen die Gächinger Kantorei und das Bach-Collegium Stuttgart jetzt gemeinsam unter dem antikisierenden Namen Gaechinger Cantorey zur Marke werden, sind klein besetzt, und auch ihr erster Auftritt beim Eröffnungskonzert des Musikfests Stuttgart ist am Freitagabend so etwas wie eine Initiativbewerbung an Publikum, Förderer und Politik: Hört alle her, was wir jetzt können!

Nach dieser „Marienvesper“ muss man sagen: Der Bewerber und seine Mitarbeiter gehören eilends eingestellt. Wer Ohren hat zu hören, ist beglückt. Mit einem kleinen, von Nadja Zwiener am Konzertmeisterpult lebendig angeleiteten Instrumentalensemble, das mit wunderbar exotischen Klangfarben exzellent intonierender alter Blasinstrumente (Zinken, Posaunen, Dulcian) punktet, und mit einer 26-köpfigen, also gerade soeben doppelchorfähigen, in den Einzelstimmen meist sehr gut verschmolzenen Sängerschar führt Rademann das Publikum durch Monteverdis Kosmos des klanglich Möglichen. Und des expressiv Erlaubten: Die Farben und vor allem die Ausdruckswerte, die namentlich die Solisten Dorothee Mields (Sopran, im „Pulchra es“ wunderschön ergänzt durch Gerlinde Sämann) und Georg Poplutz (Tenor, „Nigra sum“), aber immer wieder auch Streicher und Continuo-Spieler im Orchester ihren Partien entlocken, machen das Zuhören zu einer Abenteuerreise der Gefühle.

Die ist auch eine Achterbahnfahrt durch Altes und Neues, und auch wer das Werk kennt, dürfte den sinnlichen Wechselgesang des „Duo Seraphim“, die wunderbar auf Linie gesungenen Tenor-Antiphonen, die Echo-Wirkungen im „Audi coelum“ und schließlich den Variantenreichtum der Besetzungen im abschließenden „Magnificat“ genossen haben. Nicht nur der A-Cappella-Feinschliff des solistischen „Et misericordia“ wirkt wie aus der Zeit gefallen. Oder wie aus dem Himmel.

Nur manchmal ist die Landung auf der Erde nicht so weich, wie man es sich erträumt haben mag. Dann wünscht man Hans-Christoph Rademann namentlich in diesem Schlussstück des immer wieder wundervollen Werkes ein Quäntchen mehr Gelassenheit. Rademanns „Magnificat“ ist eine Spur zu stark zergliedert, eine Spur zu wenig im Fluss, und auch zuvor hätte mancher der heiklen rhythmischen Wechsel zwischen den einzelnen Formteilen organischer und weniger hart, würde der Dirigent weniger festhalten und mehr loslassen.

Aber dieser Einwand ist nur ein kleiner. Schwerer wiegt die ungünstige Akustik des Beethovensaals, der den Klang insgesamt verschattet, ja manchmal sogar dumpf wirken lässt und außerdem nur wenige Aufstellungsvarianten der Musiker erlaubt. Zugegeben, einen Markusdom gibt es in Stuttgart nicht, und daran trägt keiner der Ausführenden Schuld. Aber musikalische Pracht braucht – nicht nur bei einem Musikfest mit dem Motto „Reichtum“ – mehr Raum, braucht Wirkung und Widerhall. Zum Stuttgarter „Marienveschperle“ schrumpfte die Aufführung nicht, aber es ist schon schade und auch ein wenig paradox, wenn eine stimmige, fein ausgearbeitete Darbietung in historischer Aufführungspraxis von einem profanen modernen Konzertsaal in ihre Schranken verwiesen wird.