Noten lesen kann Michele Tancredi nicht. Er spielt nach Gehör und Gefühl. Foto: Rüdiger Ott

Wenn der 40-jährige Michele Tancredi nicht in seiner Pizzeria steht, macht er meist Musik.

Stuttgart-Plieningen - Er klimpert eben gerne rum, sagt Michele Tancredi, der musikalische Pizzabäcker. Er nippt an seinem Espresso. Ist doch alles nicht so bedeutsam, soll das wohl heißen. Irgendwie unrein und nicht die hohe Kunst der Musik. Mehr so lustig eben. Er nimmt sich sein Akkordeon zur Brust und beginnt zu spielen. Die Finger seiner Rechten huschen über die Klaviatur, seine andere Hand streicht über die Bassknöpfe. Sein Oberkörper beginnt zu wippen, sein Gesicht zu lachen. Oh, wie wär’s mit diesem Stück, fragt er noch, und sein Körper wippt schon zum nächsten Takt, diesmal flotter.

Als er kurz das Zimmer verlässt, steht Sarah am Tisch und verdreht die Augen. Sie ist Michele Tancredis Tochter. Sie mag es nicht, wenn er so redet, das macht ihr Vater häufig. Denn, das ist ihr wichtig: Er klimpert nicht. Das weiß eigentlich jeder, der Tancredi schon einmal beim Spielen zugehört hat. Seine Musik strahlt wie er selbst. Und das weiß auch er, nur fehlt ihm manchmal der Mut, daran zu glauben. „Ich denke immer, meine eigenen Kompositionen sind nicht gut genug“, sagt er. „Der Traum war schon immer die große Bühne. Die Möglichkeit hatte ich mehrfach, aber ich habe es nicht wahrgenommen.“

Zwei- bis dreimal in der Woche steht er vor Publikum

Also spielt er in Plieningen, einmal im Monat, in einer Pizzeria, die er zusammen mit seiner Frau betreibt. Er hat sich eine kleine Bühne aufgebaut und verzichtet dafür auf einen weiteren Tisch. Freunde kommen vorbei und spielen mit, jeder wie er kann und will. Auch Gäste trällern zu Volare und Azzurro. Er scherzt mit ihnen, gibt den Entertainer. „Das sind die besten Abende“, sagt er. „Das ist mein Seelenfutter.“ Außerdem tritt er auf Hochzeiten und Geburtstagsfeiern auf. Man bucht ihn für den Abend. Zwei-, dreimal in der Woche steht er vor Publikum.

Als Tancredi zum ersten Mal auf einer Bühne stand, war er fünf und besuchte den Kindergarten. Die Bühne war ein Kreis aus Kindern, vor seiner Brust hatte er damals wie heute ein Akkordeon, wenn auch ein kleineres, und „ich hab die Töne immer so rausgekriegt, dass sie gepasst haben“, sagt er. Er liebte es, im Mittelpunkt zu stehen. Mit sieben hat er vor einem Musikgeschäft in einem Einkaufszentrum gesungen und auf einem Keyboard gespielt, das der Besitzer rausgestellt hatte. Eine Menschentraube bildete sich um ihn. Mit elf hat er auf einem Marktplatz so lange gespielt, „bis sie mir um 17 Uhr den Strom abgestellt haben. Aber ich wollte nicht aufhören und sagte zu mir: Ja, gib’s ihnen.“ Mit 15 trat er in Diskotheken auf und kümmerte sich nicht um die Altersgrenze. Sogar eine Platte hat er damals aufgenommen. „Die erste und die letzte“, sagt er. Heute spielt er nur live. Seine Musik will er nicht mehr aufnehmen, „dazu muss sie perfekt sein, und das ist sie nicht“. Da ist sie wieder, die Mär vom Klimpern, gekleidet in andere Worte.

Vielleicht ist der Direktor jenes Konservatoriums schuld, dass sie sich in Tancredis Gehirn gebrannt hat. Er sollte zur Musikschule, die Mutter besprach sich mit dem Leiter, aber der kleine Michele hatte nur Augen für den prächtigen, schwarzen Flügel. Er setzte sich auf den Stuhl und begann zu spielen. Der Direktor schlug ihm auf die Finger, was er sich den einbilde, ohne Erlaubnis das Klavier zu benutzen. Noch Jahrzehnte später reibt sich Tancredi den Handrücken. „Das hat wehgetan“, sagt er. Tags darauf verließ er das Konservatorium.

Wer die Musik liebt, muss sie nicht in Zeilen gießen

Noten kann Tancredi bis heute nicht lesen. Er spielt nach Gefühl und Gehör, auch auf der Gitarre, die Griffe hat er sich selbst beigebracht, die Kombinationen haben sich einfach schön angehört. Wer die Musik liebt, muss sie nicht in Zeilen gießen. Und schon gar nicht erklären.

Inzwischen ist Michele Tancredi 40 Jahre alt, „und ich erkenne jetzt meine Reife“. Das klingt so, als müsste er sich selbst davon überzeugen. Mit einem italienischen Pianisten will er nun den Sprung wagen. Michele Tancredi wird singen. „denn das ist mein wahres Talent“, sagt er. „Wir wollen das Jazzige mit Pop und Klassik verbinden.“ Englische, italienische und deutsche Einflüsse sollen in dem Programm ebenso verarbeitet werden wie Emigrationsgeschichten. Wie er das denn meint? „Ich kann das nicht erklären“, sagt Michele Tancredi. „Aber ein Sopransaxofon muss dabei sein, sonst passt das nicht.“