Martin Fischer gibt eine kleine musikalische Kostprobe Foto: Gottfried Stoppel

Von der Schwäbischen Alb stammen Flöten, die vom Beginn der menschlichen Kultur zeugen. Um diese Instrumente ranken sich Fragen. Ein Musikfestival will Licht ins Dunkel bringen.

Blaubeuren - Vor mindestens 40 000 Jahren muss ein Frühmensch auf der Schwäbischen Alb auf die Idee gekommen sein, in ein Vogelknöchelchen hinein zu blasen, vielleicht nach einer herzhaften Mahlzeit. Die Unterarmknochen von Vögeln sind in der Regel innen hohl, so dass sie bei entsprechendem Luftzug Töne hervorbringen. Später hat dann wohl ein anderer Urmensch mit Feuersteinen kleine Löcher in den Knochen gerieben – und festgestellt, dass mit diesen Grifflöchern auch andere Tonhöhen erzeugt werden können.

So oder so ähnlich dürfte der frühe Homo Sapiens – der Neandertaler war schon weitergezogen – die Flötenmusik entdeckt haben. Davon zeugen etliche Bruchstücke von so genannten Knochenflöten, die Tübinger Forscher in drei Höhlen der Schwäbischen Alb entdeckt haben: im Geißenklösterle, im Hohle Fels und in der Vogelherd-Höhle. Die Knochenflöten gehören zu den ältesten entdeckten Musikinstrumenten der Welt – wahrscheinlich datiert die Trommel noch weiter zurück. Aber Haut und Holz verrotten, während Knochen Jahrtausende überstehen .

Die Sarden verwendeten Flamingobeine, die Kroaten Adlerknochen

Um diese im Urgeschichtlichen Museum in Blaubeuren ausgestellten Instrumente ranken sich viele Fragen: Wer spielte sie und zu welchem Zweck? Welche Rolle hatte Musik überhaupt damals? Und welche Klänge brachten die Instrumente hervor? Um mehr Licht ins Dunkel zu bringen, widmet sich das Dudelsack-Festival „Sackpfeifen in Schwaben“, bei dem vom 18. Oktober an Traditionsmusikgruppen aus ganz Europa auftreten, in diesem Jahr der Knochenflöte. Denn nicht nur auf der Alb, auch in anderen Ländern wurden Knochenflöten entdeckt, wenngleich jüngeren Alters. „Die sardischen sind aus Flamingobeinen, die kroatischen aus Adlerknochen“, erzählt Manfred Stingel, der das Festival organisiert. „Wir wollen bei dieser Veranstaltung unser Flötenwissen bündeln und austauschen – vielleicht finden wir so neue Denkanstöße, wie sich das Spiel auf der Knochenflöte entwickelt hat.“

Hören Sie hier eine Aufnahme mit der Gänsegeierflöte.

Matthias Fischer gibt eine musikalische Kostprobe auf einer originalgetreu nachgebauten Flöte aus einem Gänsegeierknochen. Auch sie wurde, wie vor 40 000 Jahren, mit Feuersteinen hergestellt, um sicher zu gehen, den Klang von damals zu erhalten. Der Flötenforscher aus München, der auch bei dem Festival auftreten wird, setzt die Lippen an das Knochenende wie bei einer Querflöte, hält das Instrument allerdings eher senkrecht als waagrecht. Heraus kommt ein feiner, hoher Ton, gefolgt von einer Melodie aus fünf Tönen, Fünftonmusik gewissermaßen, verziert mit Trillern und Glissandi. Fischer beschleunigt das Tempo seines Spiels, geht vom Crescendo ins Decrescendo, variiert den Rhythmus und lässt das Spiel feierlich abebben, mit lang gehaltenen Tönen.

Vor 40 000 Jahren könnte das Spiel ähnlich virtuos geklungen haben. „Diese Vermutung überrascht viele“, stellt die Kulturwissenschaftlerin Barbara Spreer fest. Denn mit den Jägern und Sammlern assoziiere man eher ein naturhaftes, vulgäres Spiel. „Diese Menschen besaßen jedoch dieselben kognitiven Fähigkeiten wie wir heute“, betont die Mitarbeiterin des Blaubeurener Museums. „Wir können davon ausgehen, dass diese Instrumente mit derselben Sensibilität und Musikalität gespielt wurden.“

Eine Akustik wie in heutigen Konzertsälen

Auch die damaligen Aufführungsorte können es mit der Qualität heutiger Konzertsäle aufnehmen. „In den drei Höhlen, wo die Instrumente gefunden wurden, herrschen ideale akustische Bedingungen“, sagt Spreer. „Es wurde offenbar nicht einfach irgendwie und irgendwo gespielt. Man achtete darauf, welchen Eindruck das Instrument hinterlässt.“

Dass die Flöten keine reinen Gebrauchsgegenstände waren, darauf deuten auch die Verzierungen hin: kleine Kerbenmuster zwischen den Grifflöchern. Die Abstände sind bei einigen Flöten gleichmäßig, bei anderen nicht. Man könne nicht ausschließen, dass der Urmensch schon damals erkannt hat, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Tonhöhe und der Platzierung des Loches.

Mit weiteren Vermutungen, zu welchem Zweck musiziert wurde, halten sich die am Museum angestellten Wissenschaftler, wie es sich für die Zunft gehört, lieber zurück. Zwar fand man in Frankreich Höhlenzeichnungen aus derselben Kulturära, auf denen Schamanen mit Flöten abgebildet sind. Zwischen den Flöten und den Zeichnungen liegen jedoch mehrere Zehntausend Jahre, wie Spreer betont. „Wir wissen nichts darüber, ob und welche Form von Religion die Spieler unserer Flöten praktizierten.“ Dass sie dennoch vom Beginn der menschlichen Kultur zeugen, darauf weisen die ähnlich alten feinen Menschen- und Tierfiguren aus Mammutelfenbein hin, die ebenfalls in den Höhlen gefunden wurden.

Von einer Sache scheint die Kulturwissenschaftlerin allerdings überzeugt: „Der Klang dieser Flöten birgt eine Transzendenz, die das Innerste des Menschen berührt. Ich bin mir sicher, dass schon damals die Musik Ausdruck der Seele war.“

Schwieriges Puzzlespiel

Gefunden wurden die ersten Flöten schon Mitte der siebziger Jahre in der Geißenklösterle-Höhle. Als solche erkannt hat man sie aber erst 1994: Die Archäologin Susanne Münzel von der Universität Tübingen war es, die bei einer Untersuchung als erste eine Flöte hinter den Fundstücken vermutete und aus 26 Knochenfragmenten eine 13 Zentimeter lange Flöte aus Schwanenknochen zusammen puzzelte.

Die „Höhlen- und Eiszeitkunst der Schwäbischen Alb“, zu der neben den Knochenflöten auch Tier- und Menschenfiguren aus Mammut-Elfenbein gehören, wurden 2017 als Unesco-Welterbe anerkannt. Zu den bekanntesten Figuren gehört die Venus vom Hohle Fels, ein sechs Zentimeter hoher Frauenkörper mit überdimensionierter Brust und hervorgehobenem Genitalbereich.

Das Festival „Sackpfeifen in Schwaben“ findet vom 18. bis 22. Oktober statt, mit Veranstaltungen und Konzerten im Haus der Volkskunst in Balingen-Dürrwangen, in Blaubeuren und in Ulm. Nähere Informationen zum Festival finden sich unter der Webseite www.schwaben-kultur.de.