Existenzialistisch, surreal: Armin Petras schreibendes Alter Ego Fritz Kater hat ein Drama über das Wesen des Menschen, sein Wollen, sein Scheitern geschrieben. Petras brachte das dunkel symbolhaft aufgeladene Werk am Freitag in einer bildmächtigen vierstündigen Inszenierung in München auf die Bühne.
„Buch“ beginnt als Film. Männer fläzen in Clubsesseln in einer Art Casino. Einer trägt ein golden schimmerndes Sakko, einer ein Militärjäckchen, ein dritter einen Smoking und der letzte einen schwarzen Anzug. Ein dekadenter Herrenklub.
Thomas Schmauser, Edmund Telgenkämper, Max Simonischek und die als Mann verkleidete Ursula Werner schwadronieren über die Zukunft, Weltraumausflüge, Atomenergie, Lunarier, die Schwäche der menschlichen Rasse, umgarnt von Mädchen mit Hasenohrenkostüm (Anja Schneider und Svenja Liesau). James-Bond-Ästhetik trifft auf Playboy-Hugh-Hefner-Setting.
Doch die Zeit der Selbstüberschätzung, des unbedingten Zukunftsoptimismus ist vorbei, deshalb erleben die Zuschauer in der Spielhalle der Münchner Kammerspiele die Szene nur als Zelluloid-Installation: sie gehen in einem dunklen Raum umher und sehen einen Film auf vier Leinwänden. Und auch das nicht allzu lange, denn die Bunnys haben genug vom Popowackeln und zücken die Maschinenpistolen.
1966: sexuelle Revolution, Frauenpower. Die Ladys mischen sich unter das zuschauende Volk, und das kann froh sein, dass die wimperntuscheverschmierten Rächerinnen der unterdrückten Weiblichkeit sich mit einem irren Lachen begnügen und ohne weiteres Bumbum wieder verschwinden.
Reise durch die jüngere Menschheitsgeschichte
So beängstigend glamourös startet die vierstündige Reise durch die jüngere Menschheitsgeschichte, die Fritz Kater in „Buch (5 ingedrientes de la vida)“ in fünf Kapiteln erzählt. Katers Alter Ego, Stuttgarts Schauspielchef und Regisseur Armin Petras, hat das Werk am Freitag in München uraufgeführt, es wird in der kommenden Saison nach Stuttgart übernommen.
In die Klage der Regisseure, Autoren schrieben heute nur noch kleine, hastig skizzierte Gegenwartsbeschreibungen, kann Armin Petras nicht einstimmen. Kater hat ein 80-seitiges Werk vorgelegt, das nichts weniger unternimmt als das Wesenhafte des Menschen zu umkreisen und Fragen nach der Zukunftsfähigkeit der Spezies zu stellen.
„Fünf Bestandteile des Lebens“ lautet der Untertitel, eine Angabe mit Symbolcharakter, ist doch die Fünf eine geradezu magische Dramenzahl und steht für das individuell Menschliche schlechthin. Eine Evolutionsgeschichte von 1966 bis heute – Gott bleibt dabei außen vor, es ist ein existenzialistisches, ein surreales Werk voller literarischer, musikalischer, intertextueller Bezüge. Beckett, Kafka, Proust grüßen aus nicht allzu weiter Ferne.
Der Abend zeigt, der Mensch ist klein
Petras begegnet dem Text mit Humor und Ironie, mit respektvoller Distanz, lässt Pathos zu und kürzt nur selten, wo der Kater-Text Längen hat. Der Abend zeigt, der Mensch ist klein. Eine Amöbe im Kosmos, mehr nicht. Er zeigt, wie der Mensch sich dennoch müht und windet, chancenlos. Der Mensch kommt, und er geht, der Einzelne ist im Vergleich zum großen Ganzen unwichtig.
Eine nüchterne Bilanzierung, en Detail aber durchaus anteilnehmend, denn der elitär akademischen Hybris setzen Kater/Petras einen Kinderdialog entgegen. Statt hochfliegender Visionen der banale Alltag verlorener Winzlinge (Thomas Schmauser und Ursula Werner) in braunen und orangefarbenene Skianzügen, die wie bestellt und nicht abgeholt in dieser 70er-Jahre-Welt am Bahnhof in Nirgendwo stehen und sich nach ihrer abwesenden Mama sehnen. Der Wissenschaftler aus dem Film geht jämmerlich an Konfetti-Bluthusten zu Grunde, seine Kinder versuchen sich in Liebes- und Freiheitserfahrungen.
Es folgen allzu sentimentale Jugendszenen, in denen grimassiert, geküsst, in Zeitlupe Tischtennis gespielt werden darf. Eine Raute aus Sitzbänken bildet die Grenze dieser eng bemessenen Welt.
Ein Catwalk der Grausamkeiten
Die Fläche formt sich später zu einem Catwalk der Grausamkeiten – ein gewagter Versuch, den zerstörerischen Turbokapitalismus der Nullerjahre am Beispiel einer Tierallegorie zu verdeutlichen. Elefantenjagd in Afrika in einer bedrohten Umwelt. Dickhäutergraue Lederjacken werden geschwungen und geschlagen, ineinander verkeilte Figuren suchen Nähe und stoßen sich ab – dieses Bewegungstheater lastet schwer.
Als sei ihm selbst nicht ganz wohl damit, ironisiert Petras diesen Ausflug ins schwarze Herz der Welt im fünften starken Teil, der vieles aus den anderen Kapiteln motivisch anspielt. Ein riesiges begehbares Elefantenskelett mit Stoßzähnen beherrscht die Spielfläche (Bühne: Volker Hintermeier). Auch die letzte Szene also eine Filmanspielung, diesmal an Cary Grant als Wissenschaftler und Katharine Hepburn als exaltierte Millionärstochter in der Komödie „Leoparden küsst man nicht“, nur dass Mann und Frau dort noch glücklich zusammenfanden.
Von der sexy Muse hat sich die Frau im Theater schnell in ein morgenmanteltragendes Muttertier verwandelt. Anja Schneider – streng auf einer Bank sitzender, personifizierter Vorwurf – wiederholt eindrücklich: „Du bist nicht da, wenn dein Kind krepiert, du Schwein!“
Es dreht sich um Selbstverwirklichung, Elternschaft, Klassenerhalt
Der Mann, die Frau, sie könnten erwachsen gewordene Figuren aus den früheren Spielszenen sein. Der Junge, dem die Mutter fehlte. Das Mädchen, deren erste große Liebe gescheitert ist. Man ist im Hier und Heute der kreativen Mitteleuropäer angelangt, die sich um Selbstverwirklichung und Elternschaft, Klassenerhalt in der vom Abstieg bedrohten Mittelschicht sorgt.
Thomas Schmauser interpretiert den Künstler und Vater im „Afrika ist die Zukunft“-T-Shirt, der sich zwischen Kunstprojekten und Sorge um das gemeinsame kranke Kind zerreißt, immer unterwegs, nie wirklich da: Sein Spiel ist fiebrig, komisch-hysterisch, ironisch, verzweifelt, grandios.
Die Themen des Abends – Schöpfung, Reproduktion, Mutterschaft, Familie, Wissenschaft, Kunst – werden auch musikalisch von dem live agierenden Musiker Miles Perkin und von Liedern der jüngeren Rock- und Popgeschichte (Deep Purples „Child In Time“, Neil Youngs „Heart of Gold“) kommentiert. Und, darin bleibt Regisseur Armin Petras ironischer Skeptiker, die überstandene Krise kann nicht das endgültige Versöhnungsbild sein.
Also endet er mit einer Parade von Spaßmachern. So ist der Mensch: ein Clown, der auf einer Bananenschale ausrutscht. Anrührend, auch komisch in seinem Scheitern.
Weitere Termine in München: 16., 17., 22., 27. April. 5., 9., 15., 16., 18. Mai. Kartentelefon: 089 / 23 39 66 00.