Vor dem Landgericht München hat am Donnerstag der Prozess um den Wirecard-Skandal begonnen, einem der größten Wirtschaftsskandale der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Staatsanwaltschaft klagt den früheren Unternehmenschef Markus Braun an.
Zweieinhalb Jahre nach der Wirecard-Pleite hat der Strafprozess um den mutmaßlich größten Betrugsfall in Deutschland seit 1945 begonnen. Vor dem Landgericht München I eröffnete der Vorsitzende Richter Markus Födisch am Donnerstag das Großverfahren gegen den früheren Vorstandschef Markus Braun und seine zwei Mitangeklagten - mit einer Dreiviertelstunde Verspätung aufgrund des großen Zuschauer- und Medienandrangs.
Die Staatsanwaltschaft wirft Braun vor, mit seinen Komplizen in der Chefetage des mittlerweile abgewickelten Dax-Konzerns eine Betrügerbande gebildet, Bilanzen gefälscht und die Kreditgeber um 3,1 Milliarden Euro geprellt zu haben - das wäre der größte Betrugsschaden in Deutschland seit 1945. Noch nie war die Chefetage eines ehemaligen Dax-Konzerns beschuldigt, als organisierte Betrügerbande agiert zu haben.
Braun bestätigt lediglich seine Personalien
Mit Braun angeklagt sind der ehemalige Chefbuchhalter des Konzerns und Oliver Bellenhaus, ehedem Leiter der Wirecard-Tochtergesellschaft in Dubai. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass die „Wirecard-Bande“ wesentlich größer war: Beteiligt waren laut Anklage ein vor dem Kollaps des Konzerns ausgeschiedener früherer Finanzvorstand, der seit 2020 untergetauchte Vertriebsvorstand Jan Marsalek sowie mehrere Mittäter im Ausland, wie Oberstaatsanwalt Matthias Bühring sagte.
Die Kammer hat in dem unterirdischen Verhandlungssaal neben der JVA Stadelheim über 100 Verhandlungstage bis ins Jahr 2024 angesetzt. Aussage wird gegen Aussage stehen: Braun bestreitet die Vorwürfe und sieht sich selbst als Opfer krimineller Machenschaften. Widerpart des Ex-Vorstandschefs und Kronzeuge für die Anklage ist der frühere Dubai-Geschäftsführer Bellenhaus.
Zur Eröffnung des Verfahrens bestätigte der 53 Jahre alte Braun lediglich seine Personalien. „Absolut richtig“, antwortete der seit zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft sitzende Manager auf die Frage, ob er in Bayerns größtem Gefängnis untergebracht sei. Zu den Vorwürfen aussagen soll Braun kommende Woche.
Bellenhaus will in vollem Umfang kooperieren
Über das Dubaier Tochterunternehmen Cardsystems Middle East verbuchte die „Wirecard-Bande“ laut Anklage erfundene „Drittpartner“-Umsätze in Milliardenhöhe. Diese Drittpartner waren Firmen, die im Wirecard-Auftrag Zahlungen abwickelten. Vor der Pleite im Sommer 2020 hatte das Unternehmen mutmaßliche Scheinbuchungen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro eingeräumt, das Geld ist bis heute unauffindbar.
Kronzeuge Bellenhaus will in vollem Umfang kooperieren: „Er wird seine Schuld eingestehen“, sagte vor Verhandlungsbeginn Florian Eder, einer von Bellenhaus’ Verteidigern. „Er war es, der die Ermittlungsbehörden auf die richtige Spur geführt hat.“ Im Gegenzug für Bellenhaus’ Kronzeugenrolle erhoffen sich die Verteidiger die Entlassung aus der Untersuchungshaft und im Urteil einen „sehr deutlichen Strafnachlass“ für ihren Mandanten.
Braun wiederum hatte seinen ehemaligen Untergebenen bereits vor Prozessbeginn krimineller Machenschaften beschuldigt. Nach Brauns Darstellung existierten die seit 2020 vermissten Milliarden, wurden aber unter Beteiligung Bellenhaus’ veruntreut. „Wenn derartige Angriffe kommen, sind das schlichtweg Nebelkerzen“, sagte Bellenhaus’ Anwalt dazu.
Im Sommer 2020 brach der Konzern zusammen
Ohne die angeblichen Erlöse des Drittpartnergeschäfts sei Wirecard defizitär gewesen, sagte Oberstaatsanwalt Bühring. Die Milliardenkredite waren laut Anklage notwendig, „um den Kollaps des Unternehmens zu verhindern“.
Wirecard wickelte als Zahlungsdienstleister an der Schnittstelle zwischen Kreditkartenfirmen und Banken sowie Einzelhändlern und sonstigen Verkäufern elektronische Zahlungen ab. Das Unternehmen meldete jahrelang rasant steigende Umsätze und stieg 2018 an der Frankfurter Börse in den Dax auf. Braun wurde als größter Aktionär Milliardär.
Im Sommer 2020 brach der Konzern zusammen und meldete Insolvenz an. Die britische „Financial Times“ war zuvor in jahrelanger Recherche den mutmaßlichen Manipulationen auf die Spur gekommen.
Allein die Verlesung des 89-seitigen Anklagesatzes in dem unterirdischen Hochsicherheitstrakt neben dem Gefängnis sollte am ersten Verhandlungstag geschätzt fünf Stunden dauern. Das Urteil ist nach derzeitigem Stand Anfang 2024 zu erwarten.