Inge Keller hätte gern unter anderen Umständen Adieu gesagt. Aus dem Wunsch ist aber nichts geworden. Foto: Judith A. Sägesser

Inge Keller, die Leiterin einer Kontaktgruppe für Menschen mit Multipler Sklerose, hört zum Jahreswechsel auf. Sie kann nicht anders.

Stuttgart-Heumaden - Vielleicht wird Inge Keller das Klingeln des Telefons vermissen. Vielleicht auch nicht. Die nächsten Wochen und Monate werden zeigen, wie sich ein Leben ohne die Amsel anlässt. Amsel ist die Abkürzung für das Wortungetüm „Aktion Multiple Sklerose e. V. Landesverband“. Während der vergangenen Jahrzehnte gehörte die Stuttgarter Amsel zu der Frau aus Heumaden wie der rheinländische Akzent. Ihre Geschichte ist daher immer auch die Geschichte der Amsel.

Inge Keller hat 25 Jahre die Kontaktgruppe Degerloch und Westfilder geleitet. Der Job war im Wesentlichen, den Fahrdienst für die Kranken zu koordinieren. Damit sie mal raus kommen. Organisieren, das kann sie, Inge Keller ist eine Zupackerin. Trotzdem hört sie zum Jahresende auf – weil sie nicht anders kann. Die Umstände „machen mich krank“, erzählt sie traurig.

Im Jahr 1985 hat Inge Keller mit einem Zivi und einem kleinen Bus angefangen. In den besten Zeiten gab es acht Zivis und vier Fahrzeuge. Seit ein paar Monaten gibt es weder Zivis noch Busse. Und genau das ist ihr Problem. Der Bundesfreiwilligendienst ist kein Ersatz, sagt sie. Inge Keller erträgt es nicht mehr, den Kranken abzusagen, wenn ein ehrenamtlicher Helfer wieder mal kurzfristig verhindert ist. Ihr Geschäft war die Verlässlichkeit, doch die kann sie ohne die Zivis nicht mehr bieten. „Es geht so viel rückwärts, und mir sind die Hände gebunden“, sagt Inge Keller. „Es ist furchtbar, den Leuten nicht mehr helfen zu können.“ Sie lag nachts wach und hatte Magenkrämpfe. Deshalb hat sie sich entschieden.

Sie hätte sich einen anderen Anlass für das Ende gewünscht. „Es war eine tolle Zeit mit den Zivis.“ Die jungen Männer sind mit den Patienten zum Supermarkt oder zum Arzt gefahren, oder zu einem Treffen der Kontaktgruppe. Denn Kontakt ist das, was die kranken Menschen brauchen. „Sie müssen aus der Isolation geholt werden“, sagt Inge Keller. Einmal im Monat treffen sich die MS-Kranken aus Degerloch und von den westlichen Fildern zum Basteln, Reden, Lachen. Ab und zu verreisen sie zusammen.

Inge Keller ist keine Frau, die jammert. „Ich habe bei der Amsel viel Kraft gelassen, aber ich habe auch viel bekommen“, sagt sie und meint damit nicht das Bundesverdienstkreuz, das ihr vor fünf Jahren überreicht worden ist, oder all die Ehrennadeln. Sie meint die MS-Patienten und wie sie mit ihrer Krankheit umgehen. „Die waren mir mit all ihrer Energie stets Vorbilder.“ Nie wäre sie darauf gekommen, über ihre Wehwehchen zu klagen – mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass sie dafür gar keine Zeit gehabt hätte. Das Telefon hat ja andauernd geklingelt.

Doch in Inge Kellers Leben gab es nicht nur diese guten Tage. Es gab eine sehr dunkle Zeit. Das war, als ihr Mann im Alter von 50 Jahren an einem Sekundeninfarkt gestorben ist. Er ist morgens aus dem Haus und abends nicht mehr zurückgekommen. Inge Keller hat lange mit dem Schicksal gehadert. Er war ihre Jugendliebe, sie wollte keinen anderen haben. „Es war wie ein Blitz aus heiterem Himmel.“ Das Paar hatte jede Menge Pläne. Und dann gab es plötzlich keine Zukunft mehr.

Nach dem Tod ihres Mannes hat Inge Keller mit ihren beiden Kindern überlegt, ob sie ins Rheinland zurückziehen sollten. Inge Keller ist gebürtige Düsseldorferin und ihrem Mann gefolgt, als der einen guten Job in Stuttgart angeboten bekommen hatte. Die Kellers sind letztlich im Schwabenland geblieben, und die Witwe hat nach etwas gesucht, was ihrem Herzen gut tut. Mitte der 1980er Jahre hat sie durch Zufall die Amsel gefunden. So nahm die Geschichte, die nun zu Ende geht, ihren Lauf.