Spektakel: Das 24-Stunden-Rennen von Le Mans. Foto: Agentur

Debütant Nico Hülkenberg besteht die Fahrprüfung beim 24-Stunden-Klassiker mit Bravour: Der Emmericher startet erstmals in Le Mans und steht am Ende gleich ganz oben auf dem Podest.

Le Mans - Wolfgang Porsche hatte Tränen in den Augen, auch LMP1-Projektchef Fritz Enzinger war emotional ergriffen. Kurz nach 15 Uhr hatte Hülkenberg den Porsche 919 Hybrid über die Ziellinie gefahren – es war der 17. Gesamtsieg, der erste seit 1998. Danach hatten sich die Stuttgarter bis 2013 zurückgezogen. Die Comeback-Aufgabe, die sich der Hersteller gestellt hatte, wurde im zweiten Anlauf erfüllt. Nach dem Erfolg zog sich jedes Porsche-Teammitglied ein Shirt mit der Rekord-Zahl 17 über.

Hülkenberg (Emmerich), Nick Tandy (England) und Earl Bamber (Neuseeland) waren erstmals in Le Mans in der höchsten Kategorie gestartet und hatten sofort triumphiert, das Team aus Timo Bernhard/Mark Webber/Brandon Hartley verfeinerte den Porsche-Erfolg mit Rang zwei. „Es war ein Traumwochenende“, jubelte Hülkenberg, „es ist ein tolles Gefühl gewesen, auf der Ehrenrunde dieser riesigen Masse an Menschen zuzuwinken.“ Hülkenberg war nicht der Einzige, der 24 anstrengende, aber am Ende glückliche Stunden erlebt hatte.

Samstag

15.00

Porsche-Hospitality: Viel Applaus spenden die 60 Menschen in der Hospitality, in der Heimat von Porsche im Fahrerlager, wo Teammitglieder, Gäste, Sponsoren und Medienvertreter verpflegt und mit allen Infos versorgt werden. Gerade sind die Autos gestartet – und drei Porsche rasen vorneweg. Die Schwüle im zeltähnlichen Gebäude bekämpfen viele mit Wasser, manche sitzen vor einem Espresso, auf den Tellern liegen Erdbeeren oder Honigmelonen. Hinterm langen Tresen räumen die Angestellten die letzten Überreste des Mittags-Büffets weg, die Service-Damen huschen geschäftig herum. Wäre nicht der ständige Lärm der Motoren, könnte es an Kaffeehaus-Atmosphäre erinnern, so macht es den Eindruck einer Autobahn-Raststätte. Das Kreischen der Turbos klingt über die Bildschirme wie ein Zahnarzt-Bohrer – wie kann man da ohne Gewissensbisse ein Stück Kuchen verzehren? Noch 23 Stunden, 42 Minuten und 22 Sekunden.

16.27

Promotion-Village: Der 911er ist der Hingucker im Dorf, wo die Händler mit Rennsport-Utensilien Kasse machen. Der 911er ist zur Hälfte original aus Blech und Kunststoffen, zur anderen Hälfte aus Lego-Steinen. Da staunen sogar Motorsport-Puristen und knipsen. Kinder sind begeistert und wollen bauen, Mütter halten sie zurück. Jahrmarkt-Stimmung bei 29 Grad, es kommen viele beim Gehen ins Schwitzen, lesen sie die Preise für die Mützen, Bücher, Shirts oder Mini-Autos, rinnt der Schweiß doppelt so schnell. Hier tummeln sich nicht nur eingefleischte PS-Jünger – Alte und Junge, Tätowierte mit Glatze und adrett Frisierte, Familien, Pärchen und Singles. Die längste Schlange findet sich nicht an den Toiletten, sondern am Geldautomaten. An die 23 Meter. „Es sind seine ersten 24 Stunden“, sagt Luc aus Alencon und zeigt auf Gaston im Kinderwagen, seinen Jüngsten, der vier Monate alt ist, „ich bin zum achten Mal hier.“ Noch 21 Stunden, 3 Minuten und 54 Sekunden.18.37

Porsche-Mitarbeiter-Dorf: Wieder Applaus. Gerade ist die Chefetage von Porsche mit Vorstandsboss Matthias Müller und Aufsichtsratschef Wolfgang Porsche eingetroffen. Die Herren stehen auf der Bühne im Verpflegungszelt und grüßen die Mitarbeiter, die den Mythos Le Mans persönlich erleben wollen. „Wir hatten gerade Pech“, sagt Müller am Mikrofon und meint den Ausfall des GT3-Autos mit der Nummer 92, „aber ich wünsche uns allen trotzdem viel Spaß. Und dass wir morgen um 15 Uhr was zu feiern haben.“ Betriebsratschef Uwe Hück schwatzt ihm noch 1000 Liter Freibier für die Mitarbeiter ab, was erneut mit viel Beifall belohnt wird.

750 Mitarbeiter campen in Wohnmobilen oder Zelten, sie haben sich um je zwei Karten beworben und hatten Glück bei der Verlosung – sie haben Urlaub genommen, sind auf eigene Kosten angereist und zahlen einen Obolus für Speis und Trank. „Es kommt sehr gut an“, sagt Jürgen Wels, der für das Dorf verantwortlich ist, „es gab weit mehr Bewerbungen als Karten.“ Uwe Schneck aus Stammheim, der in Weissach arbeitet und seine Lebensgefährtin im Arm hält, freut sich, dass er dabei ist. 2014 hatte er sich vergeblich beworben. „Mir imponiert, dass der Vorstand uns nicht vergessen hat und uns besucht“, sagt der Mann aus der Motorsport-Entwicklung. Überall glückliche Gesichter, es erinnert an ein Familien-Sommerfest; man kennt sich und mag sich. Der einzige Wermutstropfen an diesem lauen Abend: Es führt ein Audi. Noch 19 Stunden, 20 Minuten und 3 Sekunden.

23.22

Porsche-Kurve: Helle Scheinwerfer in der Dunkelheit rasen auf die Menschen zu, drehen kurz vor der Tribüne mit über 200 km/h ab, dann verschwinden die Autos laut brüllend wieder in der Nacht. Über die Leinwand flimmert das Renngeschehen live und in Farbe. An der Kurvenkombination steht eine Tribüne, eine kleine, aber feine Bar verkauft Snacks und Getränke – und die etwa 200 Fans, von denen viele wegen des frischen Windes ihre Jacken auspacken, laben sich an der Mischung aus Public Viewing und Live-Event.

Natürlich könnte jeder seinen Campingstuhl schnappen, ihn bei der Raststätte Sindelfinger Wald an die Leitplanke stellen und Autos nachts auf der A8 gucken. Doch ein Audi R 18 e-tron quattro oder ein Toyota TS040h machen mehr her als zehn A4 avant oder 20 Corolla. „Einfach faszinierend“, meint Markus Rapp aus Weilimdorf, der mit seiner Freundin an die Sarthe gepilgert ist, „ich könnte ewig zuschauen.“ Und es entwickelt sich zwischen Rennsport-Liebhabern ein Fachgespräch, das nicht nur den 24-Stunden-Klassiker zum Thema hat. Toleranz im Motorsport. In der Porsche-Kurve in Le Mans darf auch über Mercedes und die Formel 1 gefachsimpelt werden. Noch 15 Stunden, 1 Minute und 14 Sekunden.

1.11

Porsche-Box: Marc Lieb steht bereit. Fahrerwechsel. Der Porsche 919 Hybrid hält an der Box, die Tür öffnet sich und Neel Jani klettert heraus. Währenddessen sind zwei Mechaniker beschäftigt, die Reifen zu wechseln, ein dritter tankt – in Le Mans dürfen nicht mehr als drei Personen bei einem Stopp am Auto werkeln. Unterdessen sitzt der Ludwigsburger im Cockpit, wird angeschnallt – und schon ist er wieder weg. Nach 1:15 Minuten. Hinter der Garage befindet sich das Gehirn von Porsche. In einem Raum sitzen in vier Abteilungen aufgeteilt 43 Ingenieure, jeder hat mindestens zwei Bildschirme zu beobachten.

Schaubilder, viele farbige Kurven, Livebilder sind darauf zu sehen – der Laie fühlt sich wie ein Steinzeitmensch, der vor einem Fernseher sitzt. Nico Hülkenberg, der gerade seine Tour hinter sich gebracht hat, unterhält sich mit einem Ingenieur, es dürfte um Abstimmung gehen. Wer nicht eine Armlänge entfernt ist, versteht kein Wort, von draußen dringt der Lärm der vorbeiziehenden Vollgas-Karawane herein. In der Garage steht Fritz Enzinger, der Chef des Einsatzkommandos. Müdigkeit? „Während der 24 Stunden mache ich kein Auge zu“, sagt er, „zu viel Adrenalin im Blut.“ Le Mans ist kein Abenteuerurlaub, sondern ein Knochenjob. Hinten, im Ersatzteillager, liegt einer auf einer Pritsche und hat die Augen für ein paar Minuten geschlossen. Schlaf gehört eigentlich nicht zu Le Mans. Noch 13 Stunden, 9 Minuten und 44 Sekunden.

3.01

Media Room: Auch Reporter arbeiten noch, sie schreiben für einen Liveticker, sichten Fotos, verfassen Geschichten oder starren mit müden Augen auf die Bildschirme. Ordnung ist unnötiger Luxus, es herrscht organisiertes Chaos – Getränkebecher stehen überall, leere Chipstüten wechseln sich mit angebrochenen Kekspackungen ab, es liegen Rucksäcke auf dem Boden, Kabelstränge, Kühlboxen, und einer hat sich unter einem Tisch zur Ruhe gebettet. 1500 Plätze bietet das Medenzentrum, das den zweiten Stock der Haupttribüne auf 100 Metern Länge einnimmt, doch nicht alle finden einen Platz. Chris, Fotograf aus Düsseldorf, der für einen Sponsor auf den Auslöser drückt, sitzt vor vielen Gigabyte Daten, sichtet seine Werke, sortiert schlechte Fotos aus, bearbeitet die Guten und archiviert sie. „Zwischen 2 und 5 ist draußen nichts los“, sagt er, „da mache ich das. Wenn es dämmert, geht’s wieder raus. Atmosphäre einfangen.“ Noch 11 Stunden, 48 Minuten und 29 Sekunden.

5.45

Vergnügungspark: Zum Glück hat sich der Wetterbericht geirrt. Regen war angekündigt für den Sonnenaufgang um 5.52 Uhr. Es ist zwar bewölkt, aber trocken. Am Straßenrand zeigen beschlagene Autofenster, wo viele Fans die Nacht verbracht haben. Einer quält sich verschlafen aus dem Nissan. Es ist frisch zur Morgenstund, vor Tor 5 fröstelt die Aufpasserin.

Erstaunlich viele Menschen sind schon unterwegs. An einem Stand im Vergnügungspark brennt Licht, Kaffee statt Kebap wird angeboten. Das einzige Fahrgeschäft, das noch läuft, ist das bunt beleuchtete Riesenrad, für sieben Euro geht es auf 45 Meter Höhe – viele Fotografen setzen sich in die Gondeln, das Licht und der Blick von oben auf die Strecke versprechen gute Bilder. Die Fans stehen am Zaun und machen Schnappschüsse, so nah wie hier kommt man an keiner anderen Stelle an den Kurs. Die Autos rasen mit über 200 km/h in kaum zehn Metern Entfernung vorbei. Einer nimmt die dröhnenden Motoren auf und schickt die Aufnahme nach Hause. Als Hallo-wach-Gruß. Noch 8 Stunden, 30 Minuten und 30 Sekunden.

10.32

Kurve de la chapelle: Hervé rückt das Piratenkopftuch zurecht. „Als ich ein Junge war“, sagt der 38-Jährige aus St. Nazaire, „habe ich mir einen Porsche gewünscht. Ist nichts draus geworden.“ Er bestaunt sie eben aus 30 Metern Entfernung, hinter einem kräftigen Maschendrahtzaun. Hervé ist kein Vollblut-Fan, er liebt die Atmosphäre, den satten Sound der Motoren, die Farbenspiele der Scheinwerfer in der Nacht, den Geruch der Lagerfeuer. Die typische Le-Mans-Mischung.

Auf dem Circuit de Bugatti, der als Parkplatz genutzt wird, stehen sündhaft teure Lamborghini, schnittige Ferrari und edle Porsche neben günstigen Citroën, spartanischen Seat und gutmütigen Opel. Kfz-Sozialismus – das Rennen macht alle Autofahrer gleich. Die ganz Harten sitzen beim späten Frühstück im Kiesbett. Hervé ist mit dem Nötigsten ausgerüstet – mit Faltstuhl und einer Flasche Bier.

„Ich laufe herum, bleibe mal hier, mal dort stehen, es gibt immer etwas zu sehen“, sagt der Franzose, der sein Geld als Postbote verdient. Er ist es gewöhnt, zu marschieren. „Ich bin gerne alleine unterwegs“, sagt er und streicht sich über den Fünftagebart, „wenn ich Gesellschaft brauche, gehe ich zu meinen Kumpels ins Zelt.“ Natürlich würde sich Hervé freuen, wenn Porsche gewänne. Noch 3 Stunden, 48 Minuten und 4 Sekunden.

Sonntag

15.00

Porsche-Hospitality: Nico Hülkenberg fährt an der karierten Flagge vorbei, Brandon Hartley ist Zweiter. Der Jubel ist beinahe so laut wie ein Motor. Einer aufregenden Nacht mit wenig oder ganz ohne Schlaf könnte eine zweite folgen. Eine, in der bei jedem Porsche-Fan alle Entbehrungen vergessen sind.