Stuttgarter Designer Wolfgang Seidl Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Wer treibt Innovationen voran? Designer oder Ingenieure? Und was ist eigentlich schön an einem Gebrauchsgegenstand? Darauf antwortet der Designer Wolfgang Seidl in diesem Interview – aber auch auf einem Experten-Kongress am 5. Oktober im Neuen Schloss.

Herr Seidl, was ist schön an einem Gegenstand?
Schönheit ist ein kulturell getriebener Index. Verschiedene Kulturen – unterschiedliche Schönheits-Ideale. Es kommt auch auf die ästhetische Bildung des Betrachters an und auf die Epoche, aus der ein Gegenstand stammt, sowie die Zeit, in der dieser in Bezug auf seine Schönheit betrachtet wird. Das unbekannte, das Fremde, wird selten sofort als schön betrachtet. Eher das Gewohnte.
Gibt es ein anschauliches Beispiel aus der Gegenwart?
Nehmen wir den Mercedes W 210, die erste Vieraugen-E-Klasse. Anfangs haben viele geschrien: Oh, um Gottes Willen, was machen die Mercedes- Designer da? Und schon nach kurzer Zeit war dieses Auto angenommen und üblich. Schön ist in den Augen eines Designers in erster Linie das, was das Funktions- und Kundenbedürfnis erfüllt sowie Bestand hat.
Der griechische Philosoph Platon spricht von der Idee des Schönen. Aus ihrer Sicht gibt es das Schöne an sich nicht.
Wenn man die Natur als Blaupause nimmt, dann könnte man schon sagen: Schön ist Perfektion. Aber da gibt es eine Einschränkung.
Nämlich?
Nehmen wir den Schönheitsfleck. Ein perfekt symmetrisches Gesicht würde fremd anmuten. Erst die leichte Unruhe macht wirkliche Schönheit aus. Beim Jazz wäre es beispielsweise die Synkope, ein Aussetzer in der Musik. In der Kunst löst erst die Irritation Schönheit aus.
Mit wem müssen Designer sich bei der Entwicklung eines Produktes die größten Gefechte in dieser Hinsicht liefern?
Früher waren es wohl die Ingenieure und Marketingleute. Aber sie hatten nur ein begrenztes Wirkungsportfolio. Der Designer ist in seiner konzeptionellen Denkweise wesentlich komplexer aufgestellt.
Und heute?
Heute müssen wir neu denken. Wenn man Design nur so betrachtet, dass es lediglich um die schnöde Oberfläche geht, dann versteht man aus heutiger Sicht die Rolle von Design falsch. Heute muss man sich an Kundenbedürfnissen orientieren. Die strategischen Fragen, was am Schluss raus kommen soll, setzt heute viel früher an.
Geht es konkreter?
Man sollte nicht erst ein Produkt konzipieren und dann den Designern sagen: so, bastelt mal eine schöne Hülle drumherum. So funktioniert das heute nicht mehr. Wer heute erfolgreich sein will, muss in einem strategischen Prozess fragen: Welche Bedürfnisse hat der Markt, und lässt es sich überhaupt verkaufen? Das ist die neue Rolle des Designers.
Hat sich damit der Beruf des Designers, der nun Innovationen vorantreibt, neu erfunden?
In gewisser Weise. Wir nennen diesen Ansatz daher heute strategisches Design-Management. Die Vorstellung, dass der Designer ein bisschen malt, ist überholt.
Wo hat das besonders gut funktioniert?
Nehmen wir den iPod als Beispiel. Die Idee war: ständig in Begleitung von Musik zu sein. Nicht mehr als Belohnfunktion am Abend, sondern als allgegenwärtiger kultureller Begleiter. Am Anfang stand das Bedürfnis. Es war Steven Jobs, der sagte: Musik soll immer und überall verfügbar sein. So kam es zum iPod. Diese Entwicklung war designgetrieben. Es war kein Entwickler des Stuttgarter Fraunhofer Instituts, der das revolutionierende Mp3-Datenformat erfunden hat. Daran sehen Sie, dass am Anfang einer Entwicklung die Strategie stehen sollte – und dann die Erfindung, die den Verbraucher in den Mittelpunkt rückt.
Wie sähe ein Auto aus, bei dem nur der Designer das Sagen hätte?
Wie ein Smart.
Warum?
Es ist das klassische Beispiel für eine revolutionäre Denkweise, die seiner Entwicklung voranging. Designer haben das Projekt erarbeitet, dann haben Ingenieure angesetzt. Das umgekehrte Beispiel wäre ein Tesla, der aussieht wie ein normales Auto. Hier haben die Ingenieure entwickelt und die Designer kamen hinterher. Deshalb müssen in der Industrie mehr Designer in die Vorstände.
Heute haben Autos keine Kanten, keine Chrom-Stoßstangen mehr – auch aus Gründen der Sicherheit. Macht der Windkanal alles gleich?

Es gibt heute noch wenig Autos, die dem Appell der Schönheit entsprechen, so wie beispielsweise ein Ferrari oder Lamborghini. Die meisten Modelle sehen auf den ersten Blick gleich aus und haben auch noch die gleiche Technik zur Verfügung. Man kann die Autos kaum noch unterscheiden – aber dann wird eben die Marke immer wichtiger, die identitätsstiftend wirkt. Kunden entscheiden sich eher für eine Marke, als für oder gegen ein Design. Erst die Marke lädt solche Produkte auf und gibt ein Versprechen ab.

Wiederholen sich Muster in der Geschichte des Designs?
Es gibt sicherlich Standardlösungen, die aus gewissen Strömungen kommen. Zum Beispiel dem Kubismus oder dem Bauhaus.
Zu Ihrem Kongress am 5. Oktober im Neuen Schloss, den Sie von Hamburg nach Stuttgart gelotst haben. Um was geht es dort?
Es geht darum zu zeigen, dass der sogenannte Design-Thinking-Prozess Innovationen nach vorne treibt. Dort wird manchem Entscheider in der Wirtschaft klar werden: Alles, was erfolgreich war und ist, ist Design getrieben. Und wir wollen zeigen, dass Stuttgart die eigentliche Hauptstadt der Kreativen ist. Dieser absurde Berlin-Hype ist doch völlig überzogen.