Schreckensfiguren aus dem Dunkel: Benjamin Grüter als Tartuffe (li.) und Sophie Basse als Elmire. Foto: Christian Kleiner

In Claudia Bauers Inszenierung ist Tartuffe ein Schmerzensmann, welcher der Orgon-Familie bildmächtig deren Hab und Gut sowie das Haus entreißt. Hier agieren alle unter Hochdruck. Von den Zwängen des Versmaßes befreit, mischen sich heutige Fäkal-Schimpfworte in die Reden.

Mannheim - Da schwärmt der Hausherr in den höchsten Tönen über die Tugenden des Gastes, schmiedet kühne Pläne mit ihm, die von der restlichen Familie mit verhaltenem Respekt, aber vor allem mit Distanz aufgenommen werden, und dann das: Tartuffe ist bei seinem ersten Auftritt ein blutüberströmter Schmerzensmann, der sich mit nacktem Oberkörper selbst kasteit.

Das ist nicht gerade die übliche Sicht auf diesen Klassiker, aber sie beantwortet viele Fragen, die sich bis zu diesem Auftritt gehäuft haben: Warum ist diese Guckkastenbühne mit Tunnelblick so verschmiert an Decke, Boden und Wänden, weshalb sind überhaupt keine Gegenstände in der Inszenierung von Claudia Bauer zu sehen? – Schließlich ist dieser Hausherr reich, sehr reich sogar: Von vielen Ölquellen ist die Rede, vom „Mona Lisa“-Gemälde gar, überhaupt vom gesamten Louvre, all das soll ihm gehören.

Alles Betuliche, alles Behäbige hat Bauer diesem Stück in ihrer Inszenierung für das Stuttgarter Staatsschauspiel ausgetrieben, die wegen der anhaltenden Renovierungsarbeiten zunächst aber am Mannheimer Nationaltheater zu sehen ist. Auch den Personen selbst: Sie agieren alle völlig exaltiert und verkrampft zugleich, stehen total neben sich. Die Grenzen zwischen Witz und Tragik sind stets fließend, hier spielen sich Szenen ab, die auch in einer geschlossenen Anstalt stattfinden könnten. Ihre Kleider sind mit barocken Attributen versehen, doch diese sind ebenfalls schräg, unproportioniert oder deplatziert, einige Kleidungsteile könnten auch als Zwangsjacken funktionieren.

Mit Geldvermehrung oder Reichtumsverwaltung hat dieser Hausherr Orgon jedenfalls nichts mehr zu tun

Das hat Vorteile: Die Frage, wie so ein reicher Mann auf solch einen Scharlatan hereinfallen kann, stellt sich hier gar nicht erst. Denn ein völlig Durchgedrehter mehr oder weniger, darauf kommt es in diesem Szenario nicht mehr an. Da brüllen sich alle mal gleichzeitig an, quasseln vor sich hin oder schweigen. Eher könnte man sich hier die Frage stellen, wann diese Familie von solch einem hartnäckigen Virus befallen worden ist, der sie zu Grotesken ihrer selbst macht. Doch das würde dem Stück weit vorausgreifen und wäre hier auch nicht sachdienlich.

Mit Geldvermehrung oder Reichtumsverwaltung hat dieser Hausherr Orgon jedenfalls nichts mehr zu tun. Boris Koneczny ist in dieser Rolle in diesem Chaos voll damit beschäftigt, auch nur halbwegs akustisch seine Sicht auf die Dinge durchzusetzen. Und das macht er mit viel Körpereinsatz. Etwa bei Britta Boehlke als Tochter Mariane: Als sie erfährt, dass sie diesen Tartuffe heiraten soll, lacht sie völlig hysterisch derart ausdauernd, dass alles andere untergeht, ja, dass sogar noch einige hinzukommen. Etwa Catherine Stoyan als Hausdame Dorine. Während die eine sich zu Tode lacht, brüllt die andere dermaßen, dass ihre Stimme in tiefste Lagen rutscht. Dass da auch noch Toni Jessen als Valère kommt, der seine Rolle als Verlobter der Mariane einklagt, geht da schon fast unter als Kabbelei. Absolute Witzfiguren sind Lukas Rüppel als Sohn Damis sowie Stefan Kaminsky als Schwager Cléante.

Und dann, gegen Ende, kommt doch noch ein Requisit auf die Bühne in Gestalt eines Beistelltischchens

Benjamin Grüter als Tartuffe gibt mit seinem ersten Auftritt gleich zwei wichtige Signale: Da ist zum einen der bereits erwähnte Schmerzensmann, aber da ist auch der Besitzergreifende, welcher der Frau des Hauses gleich unvermittelt und ausdauernd ins Dekolleté greift. Sophie Basse als Elmire lässt das noch anfangs, um Fassung bemüht, einigermaßen mit Gelassenheit über sich ergehen. Doch wie kann Gelassenheit wirklich funktionieren in so einem Umfeld? – Zumal auch sie seltsam verkrümmt und staksend diese Szenerie betritt.

Und dann, gegen Ende, kommt doch noch ein Requisit auf die Bühne in Gestalt eines Beistelltischchens. Unter dieses soll Orgon schlüpfen, um die wahren Machenschaften seines Gastes mit eigenen Augen sehen zu können. Der, von den anderen erfolglos in die Ecke gedrängt, hat inzwischen seinen Schmerzenshabitus abgelegt, trägt ein blütenweißes Hemd und geht umso rücksichtsloser seinen Interessen nach, nachdem Orgon nach einigen überflüssigen Mätzchen endlich Platz genommen hat unter dem Tisch. Und als dieser nun gesehen hat, was sich hier in seinem Haus wirklich abspielt – folgt erst einmal langes Schweigen. Und dann wieder das große sprachliche Durcheinander. Alle reden zu allen oder auch nur für sich, was sie schon vorher gewusst, geahnt oder gefürchtet haben.

Zu erleben, wie Orgon hier allmählich das Maß seiner Selbsttäuschung erlebt, gehört meist zu den Höhepunkten dieses Stücks. Hier wird es von einem noch stärkeren Bild abgelöst: Tartuffe reißt sich Haus, Hab und Gut dieser Familie unter den Nagel. Das geschieht hier sehr bildmächtig, indem Wände, Decke und sogar die Bodenplane weggerissen werden, aus dem Bühnenschlauch, in dem die Beteiligten die ganze Zeit über agiert haben, wird der leere, nackte und offene Bühnenraum, in dem sich alle bis auf Tartuffe frierend wiederfinden und wie Nackte in der Kälte zittern. Und so stimmen sie, nur Silben herausbringend, zaghaft Henry Purcells Kälte-Song an.

Hier gibt Bauer der Inszenierung etwas von dem zurück, was sie bis dahin verweigert hat: eine übergeordnete Form. Denn auf Verse hat sie verzichtet, eigentlich logisch, denn so furios wie in dieser Inszenierung können nur jene agieren, die von formalen Zwängen befreit sind, da schleicht sich dann auch mal ein sehr heutiges Fäkal-Schimpfwort ein. Der komödiantische Verlauf ins Tragische bleibt auf diese Weise ebenfalls gewahrt, Erkenntnisgewinne können da aber nicht vermittelt werden, zu sehr stehen da alle unter Hochspannung.

Stuttgart in Mannheim

Noch voraussichtlich bis März nächsten Jahres ist das Stuttgarter Schauspielhaus wegen anhaltender Renovierungen geschlossen. Gespielt wird in der Spielstätte Nord. Für große Produktionen steht dort die Probebühne der Oper zur Verfügung. Bespielt wird auch das Kammertheater.

Molières „Tartuffe“ ist bis auf weiteres im Nationaltheater Mannheim zu sehen. Weitere Aufführungen sind am 28. 10., 15. und 18. 11. Weitere Termine bis März stehen noch nicht fest