Ein Freund klarer Worte: Jens Baas, Chef der Techniker Krankenkasse. Foto: dpa

In der Debatte um falsche Diagnosen mangelt es an Fakten, aber die Behörden verschärfen schon einmal die Vorgaben. Auslöser war eine Aussage von Jens Baas, Chef der Techniker Krankenkasse.

Berlin/Stuttgart - Alles begann mit einem Interview. Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse (TK), erklärte am 9. Oktober im Sonntagsblatt der „Frankfurter Allgemeinen“ freimütig: „Wir Krankenkassen schummeln ständig.“ Es sei ein Wettbewerb zwischen den Kassen darüber entstanden, „wer es schafft, die Ärzte dazu zu bringen, für die Patienten möglichst viele Diagnosen aufzuschreiben.“

Was auf Baas‘ Paukenschlag folgte, war eine tagelange aufgeregte Debatte über das angeblich große Geschäft mit falschen Kranken, von dem, wie es hieß, Kassen und Ärzte gleichermaßen profitieren würden. Zwei Monate später ist die Faktenlage in der Sache weiter prekär. Aber dafür gibt es nun eine erste beherzte Ansage der für die Krankenkassen zuständigen Aufsichtsbehörden.

Bei einer Arbeitstagung vor zwei Wochen in München nahmen sich Experten des Bundesversicherungsamts und der Sozialministerien der Länder die direkten Verträge zwischen Kassen und Kassenärztlichen Vereinigungen zur Brust, darunter auch die sogenannten Betreuungsstrukturverträge. Die Entscheidung zu ihnen fiel unmissverständlich aus. Sinngemäß lautet er so: Ärzte dürfen nicht zusätzlich dafür honoriert werden, dass sie Patienten bestimmte Diagnosen zuweisen. Erlaubt ist das nur, wenn es für das Zusatzhonorar auch eine besondere medizinische Versorgung gibt, die im Vertrag zwingend konkret formuliert werden muss.

Beeinflussung von Diagnosen ist unzulässig

Auf vielen Webseiten von Kassenärztlichen Vereinigungen kann man die entsprechenden Verträge einsehen. Eine erste Durchsicht legt die Vermutung nahe, dass sie den neu formulierten Bedingungen der Aufsicht in der Regel nicht genügen dürften. Insofern ist davon auszugehen, dass nach den nun anstehenden Prüfungen der Verträge durch die Aufsichtsbehörden häufig der folgende Beschluss von München bestätigt wird: „Derartige bilaterale Verträge sind rechtswidrig.“

Die Debatte um angeblich frisierte Diagnosen gibt es nicht erst seit der Selbstanklage von TK-Chef Baas. Sie ist so alt wie der Finanzausgleich zwischen den Krankenkassen, der sogenannte morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich, kurz: Morbi RSA. Er legt auf der Basis eines Katalogs von 80 Krankheiten fest, welche Kasse wie viel Geld aus dem Gesundheitsfonds bekommt. Schon vor der letzten Reform des Morbi-RSA im Jahr 2009 war immer wieder kritisiert worden, der Finanzausgleich setze falsche Anreize und werde aus den Deutschen ein Volk von chronisch Kranken machen.

Die bisher dazu vorliegenden Zahlen sind allerdings nicht eindeutig. Nach Angaben der Bundesregierung stieg zwischen 2013 und 2015 die Zahl der je Versicherten als gesichert qualifizierten vertragsärztlichen Diagnosen jährlich um 3,4 Prozent. Die Diagnosen mit Morbi-RSA-Bezug nahmen aber mit plus 4,6 Prozent stärker als die Diagnosen ohne Morbi-RSA-Bezug (plus 3,0 Prozent). Es gibt jedoch auch Zahlen, die unter Rückgriff auf andere Bezugsgrößen ein genau gegenteiliges Bild ergeben.

Neben den Betreuungsstrukturverträgen befassten sich die Aufsichtsbehörden in München auch mit Versuchen von Kassen und deren Dienstleistern, die Diagnosestellung beziehungsweise die dazu gehörige Kodierung von Diagnosen für die Abrechnung zu beeinflussen, etwa durch Besuche von Beratern in der Arztpraxis. Auch in diesem Punkt erging der Beschluss, dass solche Versuche unzulässig sind.