Bevor Moderator Mustafa Göktas Augenzeuge der Messerattacke auf dem Schlossplatz wurde, sah er das Spiel Ukraine gegen Belgien im Stadion. Foto: /privat

Erst hat der Moderator Mustafa Göktas Gänsehaut im Stadion gespürt – dann wurde er Augenzeuge der Messerstecherei auf dem Schlossplatz. Die Bilder sitzen tief, doch der türkische Schwabe will nicht, „dass ein Trauma im Hinterkopf zurückbleibt“.

Im roten Halbmond-Trikot hat er ein Selfie von sich in der Stuttgart Arena gemacht und bei Instagram bissle traurig geschaut zum scherzhaften Post: „Der Verkäufer meinte, dass die Türkei spielt.“ Am Neckar traf in Wahrheit Ukraine auf Belgien. Die Türken waren erst später gegen Tschechien in Hamburg dran. Mustafa Göktas, Model, Moderator und Galerist, wollte unbedingt daheim in Stuttgart ein EM-Spiel live und voller Emotionen im Stadion erleben.

 

Im ukrainischen Block gab es freie Plätze, weshalb sich der „schöne Musti“, wie er genannt wird, ein Ticket regulär für knapp 200 Euro gekauft hat. Bereut hat er dies keineswegs. Die Stimmung bei den Ukrainern erklärt er nur mit einem Wort: „Gänsehaut!“

Auf der Rückseite seines Shirts steht „Ützmütz“ – das war ein Scherz seiner früheren Fußballmannschaft. Die Mitspieler konnten kein Türkisch und schenkten ihm das „Ützmütz“-Trikot zum Geburtstag.

„Zum Glück war die Polizei schnell da“

Auf dem Heimweg rief ihn seine älteste Tochter an. Sie wollte spontan das Türkei-Spiel auf dem Schlossplatz besuchen. Auf Euphorie folgte Wut: Was der Vater später mit der Tochter vor der hinteren Leinwand erlebte, ist ein tiefer Schmerz, der anhält.

Hier war die Welt noch in Ordnung: Mustafa Göktas mit seiner Tochter in der Fanzone des Schlossplatzes bevor der Messerangriff geschah. /privat

„Musti“ war Augenzeuge des Messerangriffs eines 25-jährigen Syrers, der drei Personen, einen Deutschen und zwei Türken, verletzte. „Wir standen etwa fünf Meter entfernt“, berichtet er, „es gab eine Schlägerei.“ Der Täter habe „aus dem Nichts“ ein Messer gezückt, „und mit einer Klinge von sechs bis acht Zentimenter in den Bauch eines Mannes gestoßen“. Einer der am Streit Beteiligten fiel auf eine Frau neben Göktas. Der Moderator warf sich vor seine Tochter und deren Freundinnen. „Die Mädels haben geweint.“ Zum Glück sei die Polizei schnell gekommen.

„Ützmütz“, der bald bei der Fashion Week in Berlin als Model und Moderator gebucht ist, kann es nicht fassen. „Die Stimmung war so toll – und dann das“, sagt er wütend. Wird er noch mal in die Fanzone gehen? Die Bilder sitzen zwar tief, doch der türkische Schwabe will nicht, „dass ein Trauma im Hinterkopf zurückbleibt“. Deshalb hat er mit seiner Tochter beschlossen, „dass wir uns nicht wegen eines Idioten die EM versauen lassen“. Sie gehen also wieder auf den Schlossplatz.

Ein Gesicht der EM: Andre Schnura mit seinem schwarzen Saxofon vor dem Kunstmuseum. /privat

Die tief sitzenden Bilder werfen einen Schatten auf zwei großartige EM-Wochen. Viele dachten, der Fußball reißt sie euphorisch raus aus der gesamtgesellschaftlichen Depression nach Krisen und Kriegen. Zwei Wochen lang hat das, was in der Stadt los ist, die Stimmung aufgehellt. Vielen Dank, liebe Schotten und Dänen, vielen Dank an Andre Schnura mit dem schwarzen Saxofon, vielen Dank für den Spaß beim gemeinsame Feiern und Tanzen, für gelebte Völkerfreundschaft. So viele schöne Momente gab es – ein großes Fußballturnier ist immer mehr als Fußball.

„Wir lassen uns von einem Täter nicht vorschreiben, wie wir zu leben haben“

Zwar hat der Messerstecher alle in die Realität zurückgeholt, aber stoppen kann er die Feierlaune nicht. „Wir lassen uns von einem einzelnen Täter nicht vorschreiben, wie wir zu leben haben“, sagt der Fanzonen-Wirt Michael Schmücker am Tag nach der Bluttat. Am Tag danach ruht der Ball. Auf dem Schlossplatz spielen Joris, Philipp Dittberner und Madeline Juno. Dass es so leer ist, hat wohl wenig mit dem Messer zu tun.

Joris begeistert am spielfreien Tag in der Stuttgarter Fanzone ein relativ kleines Pubikum. /Zophia Ewska

Bei einem Fußballturnier tun sich Nicht-Fußballer schwer, auch wenn sie so gut sind wie die drei Topacts. Der Messerangriff ist ein beherrschendes Thema. Man hört Fragen wie: Sind die Eingangskontrollen gut genug? Jubelt die AfD? Was nützen Poller auf Straßen, wenn es freie Grenzen gibt? Wird es beim Deutschland-Spiel voll? Kann man noch von einem Sommermärchen 2.0 reden?

Manche haben das Wort Sommermärchen bereits gestrichen. Alte Zeiten lassen sich nicht wiederholen, Märchen noch weniger. Die Zeiten ändern sich – wir sollten das Beste daraus machen. Die Magie des Fußballs ist, dass sie Unterschiedliches vereint.

„Die haben dieselben Hobbys wie ich, gucken, jubeln, saufen“

Auf Instagram schreibt ein Stuttgarter, warum die Heim-EM ihm so gut gefällt: „Die haben dieselben Hobbys wie ich, gucken, jubeln, saufen.“ Aber da geht noch mehr! Viele Fußballtouristen erkunden die Stadt nicht nur übers Bier. Auf dem Fernsehturm etwa gingen die Besucherzahlen steil nach oben. Auch die Spielerfrauen der Dänen waren da, wovon Turmgastronom Dennis Shipley schwärmt: „Die sehen aus wie Topmodels.“

Wer zu bestimmten Zeiten Stuttgarts Wahrzeichen besucht, schaut womöglich im Turmrestaurant auf geschlossene Jalousien. Die muss Shipley runterlassen, wenn die Schweizer im Gazi-Stadion trainieren. Soll keiner ihre Tricks filmen. Sein Verdienstausfall an einzelnen Tischen wird ersetzt.

Saxofonist Andre Schnura ruft dazu auf, das Ego „sterben zu lassen“ und Verständnis zu zeigen „für eure Mitmenschen“. Und Mustafa Göktas, der Deutschland im Finale sieht, freut sich auf ein „Fußballfest“, bei dem „Idioten“ keine Chancen erhalten, die Lebensfreude „von 99 Prozent“ zu zerstören.