Nach der Bundestagswahl 2017 trat die SPD in eine neuerliche „große Koalition“ ein. 2021 hat sie womögliche andere Präferenzen. Foto: dpa/Oliver Berg

Nach der Bundestagswahl sind komplizierte Koalitionsverhandlungen zu erwarten. Ein Wissenschaftler hat die wahrscheinlichste Regierung für uns errechnet. Das Modell ist erstaunlich zuverlässig.

Stuttgart - Wer wird Deutschland künftig regieren? Die Antwort geben die absehbar schwierigen Koalitionsverhandlungen. Genau wie das Wahlergebnis lässt sich allerdings das wahrscheinlichste Regierungsbündnis vorhersagen: Rot-Grün-Rot. Trotz der erheblichen Differenzen etwa in der Außenpolitik verspricht das Linksbündnis mehr inhaltliche Einigkeit als alle anderen nach Umfragestand möglichen Regierungskoalitionen. So sagt es jedenfalls das neue Onlinetool „Coalizer“ in einer exklusiv für unsere Zeitung erstellten Berechnung voraus.

Das an der TU Chemnitz entwickelte Programm nutzt dafür Wahlomat-Daten. Aus den Antworten auf fast 40 politische Fragestellungen werden inhaltliche Distanzen zwischen den Parteien errechnet. Gemeinsam mit der angenommenen oder tatsächlichen Sitzverteilung errechnet „Coalizer“ für jede Partei die „nutzenmaximierende“ Koalition. Als nutzenmaximierend gilt ein Bündnis, in dem die Parteien ihre politischen Vorstellungen möglichst gut durchsetzen können.

Das folgende Schaubild zeigt, wie stark dies für die aktuell möglichen Koalitionen gilt:

Das ist kein Spielzeug, sondern ernsthafte Politikwissenschaft. Unter Fachleuten ist es quasi Konsens, dass die im Wahlomat abgefragten Parteipositionen deren inhaltliche Haltung auch zueinander und damit die Voraussetzungen für eine Koalition sehr gut abbilden. Modelle zur Koalitionstheorie entwickelt und verfeinert die Politikwissenschaft schon lange. Auf dieser Grundlage kann „Coalizer“ für die vergangenen zwanzig Jahre die meisten Regierungskoalitionen in Bund und Ländern erklären – auch jene, die nicht zustande kamen.

Warum Jamaika 2017 platzte

2017 stieg die FDP aus den Jamaika-Verhandlungen aus, weil etliche ihrer politischen Kernforderungen in einem schwarz-gelb-grünen Bündnis nicht umzusetzen seien. „Die Ämterorientierung der FDP war nicht hoch genug“, sagt der „Coalizer“-Entwickler Robin Graichen mit den Worten des Politikwissenschaftlers: Selbst mehrere Ministerposten konnten die Liberalen nicht davon überzeugen, die für dieses Bündnis nötigen inhaltlichen Kompromisse einzugehen.

Das Modell geht davon aus, dass Parteien eine ihrem Wahlprogramm entsprechende Koalitionspolitik wünschen. Inhaltliche Kompromisse lassen sie sich mit Ministerposten „bezahlen“. Es geht ihnen also um Politik und Ämter. Für die Politik- und Ämterorientierung errechnet „Coalizer“ jeder Partei für jede mögliche Koalition Werte zwischen 0 und 100%.

Je höher die Ämterorientierung, desto größer die inhaltlichen Differenzen mit den Koalitionspartnern. Eine Ämterorientierung von 80% bedeutet, dass eine Partei in so einer Koalition nur noch zu 20% wirklich an der Koalitionspolitik interessiert wäre. Die 2017 gebildete „große Koalition“ war für Union und SPD schon mit einer Ämterorientierung von 21 beziehungsweise 30 Prozent attraktiv. Nicht Jamaika, sondern die GroKo war damals rechnerisch insgesamt „nutzenmaximierend“.

Warum Rot-Grün-Rot attraktiv wäre

Sollten aktuelle Umfragen die Kräfteverhältnisse im Bundestag korrekt vorhersagen und die SPD die Bundestagswahl mit 27% Stimmenanteil deutlich gewinnen, könnten die Sozialdemokraten mit Rot-Grün-Rot ihre politischen Vorstellungen am ehesten durchsetzen (Ämterorientierung nur 25%).

Auch für Grüne und Linke wäre die Koalition attraktiv, weil sie nur eine geringe Ämterorientierung voraussetzt – das Linksbündnis wäre sich inhaltlich relativ einig, jedenfalls ausweislich der Wahlomat-Daten. Von allen aktuell denkbaren Regierungskoalitionen ist Rot-Grün-Rot aktuell nutzenmaximierend.

Das kommt auch daher, dass Grüne und Linke für das Linksbündnis nur eine Ämterorientierung von 28 beziehungsweise 48 Prozent benötigen. Typischerweise liegt der Wert für kleinere Parteien bei 50 Prozent und mehr – weil sie typischerweise stärkere inhaltliche Zugeständnisse akzeptieren müssen. Weil sie dabei nicht unendlich flexibel sind, um ihre Wähler nicht zu sehr zu enttäuschen, scheitern Koalitionsverhandlungen wie das Beispiel FDP 2017 zeigt – dann scheint der Gang in die Opposition nützlicher.

Was, wenn aus Rot-Grün-Rot nichts wird?

Robin Graichens Tool errechnet, welche Bündnisse 2021 wahrscheinlich sind, wenn Rot-Grün-Rot etwa wegen ideologischer Differenzen doch platzt. Für die Union wäre wegen der geringen ideologischen Distanz zur SPD eine neuerliche „große Koalition“ inhaltlich minimal attraktiver als Jamaika (Ämterorientierung 36 beziehungsweise 40 Prozent).

Die Grünen müssten in einer Ampelkoalition (50%) etwas weniger inhaltliche Zugeständnisse machen als in einem Bündnis mit CDU und FDP (57%). Für FDP dagegen wäre Jamaika (50%) etwas attraktiver als die von Parteichef Christian Lindner oft geschmähte Ampel (59%). Die beiden kleineren Koalitionspartner haben also gegenläufige Interessen, was die Jamaika- und Ampelkoalition anbelangt.

Und wenn die GroKo keine Mehrheit hat?

Der „Coalizer“ blendet alle anderen Faktoren aus, etwa den Wunsch, die „große Koalition“ zu beenden oder dass Parteien bestimme Themen besonders wichtig und Kompromisse für sie dabei schwierig sind. Zudem sind die vermeintlich exakten Berechnungen zu Koalitionswahrscheinlichkeiten derzeit Gedankenspiele. Doch am Wahlsonntag werden sie verhandlungstaktische Realität, und da haben die Parteivorderen mehr Optionen als jemals zuvor.

Was, wenn aus Rot-Grün-Rot nichts wird und die bisherige „große Koalition“ doch noch eine eigene Mehrheit hat (was nicht auszuschließen ist)? Dann könnte Christian Lindner die Grünen, wenn sie unter allen Umständen mitregieren wollen, in ein Jamaika-Bündnis mit der Union zwingen, indem er einer Ampelkoalition nach ersten Sondierungen eine Absage erteilt – die FDP wäre in einem ganz neuen Sinn Kanzlermacher.