Ein Kurs für Migrantinnen: Ehrenamtliche Rettungsschwimmerinnen zeigen den Jugendlichen im Tübinger Hallenbad, wie sie die Angst vor dem Wasser verlieren. Foto: Horst Haas

Deutschland wird zum Nichtschwimmerland. Das will Dagmar Müller ändern. Die einstige Managerin hat in Tübingen ein beispielhaftes Projekt angestoßen. 430 Kindern und Jugendlichen hat sie Schwimmkurse vermittelt.

Tübingen - Der Blubberkreis bringt Hanan an ihre Grenzen. Die 18-Jährige im Burkini holt tief Luft, schließt die Augen und atmet unter Wasser aus. Bläschen steigen auf, keine zwei Sekunden später ist sie wieder aufgetaucht. „Man braucht Mut zum Schwimmen“, sagt die Syrerin. Woche für Woche ist sie sicherer unterwegs im Tübinger Hallenbad Nord. „Ich liebe Wasser“, sagt die Waldorfschülerin, die mit ihrer Familie von Damaskus nach Deutschland geflohen ist. Früher habe sie immer mal wieder im Mittelmeer gebadet, im flachen Strandbereich. Schwimmen gelernt hat Hanan aber nie. Umso glücklicher ist sie über ihren kostenlosen Platz in einem Kurs für junge Flüchtlingsfrauen. Neben ihr macht eine junge Jesidin aus dem Nordirak Blubberbläschen, ein Mädchen aus Nigeria klettert mit etwas Verspätung ins Lehrbecken.

Den Kurs initiiert hat Dagmar Müller, die von allen nur „Schwimm-Dagmar genannt wird. Die ehemalige Managerin bei IBM hat viel Zeit, erprobte Organisationsqualitäten und ein hoch gestecktes Ziel. „In Tübingen sollen alle Kinder schwimmen lernen“, fordert die 65-Jährige, die mit ihrem Mann Gerd 2015 von Costa Rica nach Tübingen gezogen ist. Die beiden haben ein Projekt angestoßen, das Vorbild sein könnte für viele andere Städte. Mit Hilfe von Sponsoren ermöglichen sie 150 Kindern und Jugendlichen im Jahr, die Angst vor dem Wasser zu verlieren und schwimmsicher zu werden. Die Kosten dafür liegen bei rund 70 000 Euro.

Zwei Drittel der Zehnjährigen können nicht richtig schwimmen

Im Blick hat Müller vor allem Kinder aus Familien, die sich den Unterricht nicht leisten können. Neu zugezogen in der Universitätsstadt, informierte sie sich über die Aktivitäten des Runden Tisches Kinderarmut und stellte fest: Beim Thema Schwimmen gibt es Nachholbedarf. Immer weniger Kinder lernen schwimmen. Waren es 2005 noch ein Drittel der Zehnjährigen, die sich nicht sicher im Wasser bewegten, sind es heute knapp zwei Drittel – so die aktuellen Zahlen der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft (DLRG).

Dass Deutschland zum Nichtschwimmerland wird, hat verschiedene Gründe. Zum einen wird der Unterricht vernachlässigt – zu viele Kinder werden im Turbomodus durchs Schwimmbad geschleust. Auch fallen immer wieder Stunden aus und Sportlehrer sind nicht optimal ausgebildet. Dabei ist gesetzlich vorgeschrieben, dass auch Schwimmen in Grundschulen gelehrt wird. Zum anderen gibt es strukturelle Probleme. Etliche Grundschulen haben keinen Zugang zu Bädern. Mal wird ein Bad saniert, mal geschlossen. Zu marode ist der Bestand, zu kostspielig oft der Unterhalt. So schrumpft Jahr für Jahr die Anzahl der Bäder in Deutschland und viele stehen vor dem Aus. Das ist alarmierend angesichts einer Zahl, die deutlich ansteigt: Im vergangenen Jahr ertranken in Deutschland 537 Menschen, darunter etliche Flüchtlinge. Das waren 49 mehr als im Vorjahr – und erstmals seit zehn Jahren mehr als 500.

Diese Entwicklung müsse gestoppt werden, fordert Müller. Deshalb baut sie die ehrenamtliche Initiative „Schwimmen für alle Kinder“ immer weiter aus. In Kooperation mit der Stadt, mit der DLRG, dem Tübinger Schwimmverein und privaten Schwimmschulen hat sie ein Netzwerk geknüpft, um Kindern aus benachteiligten Familien und Flüchtlingskindern Plätze in Kursen zu vermitteln. Rund 430 haben schon daran teilgenommen. „Schwimmen macht selbstbewusst “, sagt Dagmar Müller und erzählt von einer Fünfjährigen aus Pakistan, die anfangs zitternd am Beckenrand stand. Inzwischen hat sie das Bronzeabzeichen gemacht.

Oft sind es Eltern oder Familienbetreuer, die die Kinder bei den Kursen anmelden. Zahlen müssen sie dafür nichts. Müller kann sich noch gut an den Anruf eines Lehrers erinnern, der sich um einen griechischen Jungen sorgte, der bei einer geplanten Klassenfahrt mit Kanutour zum Außenseiter geworden wäre. Der Junge konnte nicht schwimmen und hätte bei dem Ausflug nicht mit dürfen. Die Vorbereitungszeit reichte aus: Gleich zwei mal die Woche erhielt der Schüler Unterricht und hatte großen Spaß im Kanu.

Anfangs kaufte Dagmar Müller Burkinis und drückte Kindern Busgeld in die Hand

Auf dem Wohnzimmertisch bei Müllers liegen ausgefüllte Anträge für neue Kurse und Seepferdchen-Urkunden. Die müssen von Dagmar Müller noch schnell ins Uhlandbad gebracht werden, rechtzeitig zur Verleihung. Anfangs war die Projektinitiatorin bei jedem Kurs dabei, kaufte Burkinis, wenn die passende Badekleidung fehlte, oder drückte einem Kind Busgeld in die Hand, wenn das Taschengeld nicht reichte.

Das Handy von Dagmar Müller ist ihr mobiles Büro. Auf WhatsApp gehen Schwimmnachrichten ein: Ein Kind entschuldigt sich für einen Kurs, ein Vater klärt Formalitäten, eine Mutter will Auskünfte zum Angebot in den Weihnachtsferien. Das Schwimmprojekt ist für Müller längst zum Vollzeitjob geworden. „Manchmal pflückt mich mein Mann nachts um halb zwei vom Stuhl“, sagt sie lachend, Kürzer treten will sie trotzdem nicht. Neuerdings gibt es sogar drei Kurse für Flüchtlinge. Eine ganze Grundschule soll evaluiert werden und Unterstützung erhalten. Und ein Pilotprojekt mit einem Kindergarten hat Müller auch schon angebahnt.

Wichtig ist ihr, dass alles ohne Druck läuft: „Mich freut es, wenn es den Kindern Spaß macht“, sagt sie. Aber es geht oft um viel mehr. „Wer nicht schwimmen kann, steht oft am Rand.“ Und gegen diese Art der Ausgrenzung gebe es ein gutes Mittel: Schwimmkurse für alle.