Bei der Podiumsdiskussion „Mittendrin – Hausarzt gesucht“ stellten sich der Klinische Direktor des Klinikums Stuttgart, Professor Jürgen Graf, AOK-Geschäftsführer Christian Kratzke sowie die Politikerin Karin Maag (CDU) und der Hausarzt Dr. ­Michael Oertel den Fragen der Gäste (von links). Durch den Abend führten die StN­Redakteure Martin Haar und Carolin Stihler. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

In einigen Stuttgarter Stadtbezirken gibt es schon heute zu wenig Hausärzte. Doch das muss nicht so bleiben. Experten sehen Lösungen von sanftem Druck bis hin zu mehr Studienplätzen für angehende Mediziner.

Stuttgart - Am Anfang steht die frohe Botschaft. „Der Arztberuf hat in keinster Weise an Attraktivität eingebüßt“, sagt Michael Oertel mit voller Überzeugung. Es handelt sich nicht nur um einen Eindruck, den der Hausarzt mit Praxis im Stuttgarter Westen und Leiter der Notfallpraxis am Marienhospital hat. Er belegt seine Aussage mit Zahlen: „Jedes Jahr gibt es 40 000 Bewerber für 10 000 Studienplätze im Fach Medizin.“

Das Publikum im Saal des Olgahospitals horcht auf. Und bekommt bei der Podiumsdiskussion „Mittendrin“ unserer Zeitung zum Thema Hausarztmangel gleich noch mehr zum selben Thema zu hören: „Wir haben in Deutschland immer mehr Ärzte“, bekräftigt Jürgen Graf, Klinischer Direktor des Klinikum Stuttgart und am Montagabend Gastgeber.

Alles bestens also? Mitnichten. Denn wie passen diese Zahlen mit der Tatsache zusammen, dass immer häufiger der Hausarzt keinen Nachfolger findet? Dass Patienten oft lange suchen müssen, bis ein Internist sie annimmt? Dass in Stuttgart die Stadtbezirke Weilimdorf, Stammheim und Zuffenhausen bereits als unterversorgt gelten?

Der Teufel steckt im Detail. „Anfang der 90er Jahre gab es Tausende arbeitslose Ärzte. Deshalb hat die Politik die Bedarfsplanung eingeführt. Diese Zugangsbeschränkung war damals gar nicht falsch“, sagt Christian Kratzke. Die Studienplätze sind deshalb reglementiert. Der Geschäftsführer der Krankenkasse AOK in Stuttgart und Böblingen erkennt aber in der Folge einen schweren Fauxpas: „Wie so häufig in Deutschland hat man den Fehler gemacht, etwas zu beschließen, es aber danach nicht mehr zu überprüfen.“

So kommt es, dass sich die Lage verändert hat. Denn trotz vieler Ärzte fehlen zahlreiche Mediziner. „Früher haben Ärzte 80 Stunden in der Woche gearbeitet“, sagt Graf. Diese Belastung sei auch wegen neuer Gesetze deutlich gesunken. „Viele Lebensläufe verlaufen auch nicht mehr so linear. Bei uns am Klinikum arbeiten allein 20 Prozent der Leute in Teilzeit“, weiß Graf. Deshalb braucht es heute mehr Ärzte, um die gleiche Arbeit zu stemmen. Das bekräftigt auch die gesundheitspolitische Expertin der CDU im Bundestag. „Den Hausarzt, der 16 Stunden am Tag arbeitet und dann auch noch nachts durch die Gegend fährt und Notdienste übernimmt, gibt es bald nicht mehr“, sagt die Stuttgarter Abgeordnete Karin Maag.

Die Gefahr ist also erkannt. Doch die StN-Redakteure Carolin Stihler und Martin Haar auf dem Podium sind vor allem an Lösungen für das Problem interessiert. Und von denen haben die vier Experten in der Runde erstaunlich viele parat. Zunächst einmal müssen schlicht mehr Ärzte her. „Es könnte schon eine Entlastung bringen, wenn man die Zahl der Studienplätze um zehn Prozent erhöhen würde“, fordert Hausarzt Oertel. Auch Graf sieht hier die Politik am Zug: „Es gibt ein Versagen bei der Steuerung.“ Auch die Kassenärztliche Vereinigung müsse sicherstellen, dass das, was nötig ist, dann tatsächlich finanziell abgedeckt werde.

Doch selbst wenn es genug Hausärzte gäbe – wie kann man sicherstellen, dass sie auch dort arbeiten, wo sie gebraucht werden? Diese Frage ist heikel. Maag sieht einen Ansatz in einem neuen Gesetz, das bereits am 1. Juli in Kraft treten soll. „Wir werden darin die Bedarfsplanung neu aufrollen und kleinräumiger machen“, erläutert die Abgeordnete. Damit will man verhindern, dass es in einer Stadt wie Stuttgart beispielsweise im Süden viele Ärzte gibt, im Norden aber nur wenige, obwohl der Durchschnitt im großen Ganzen in diesem Fall stimmen würde. Die neue Bedarfsplanung sollen Experten aus dem Gesundheitsbereich bis Ende nächsten Jahres erarbeiten. Um die Bezahlung an die von anderen Ärzten anzugleichen, spricht sie sich zudem für mehr sogenannte Selektiverträge aus. Bei diesen erfolgt die Entlohnung der Ärzte nach den erbrachten Leistungen, zum Beispiel durch die Zahl der behandelten Patienten.

Natürlich ist Maag klar, dass man keinen Mediziner dazu zwingen kann, sich an einem bestimmten Ort als Hausarzt niederzulassen. Sie spricht von „sanftem Druck“ und meint damit in erster Linie Anreize. Die müssen nicht unbedingt finanzieller Art sein. „Wir müssen viel mehr die ganze Arztfamilie betrachten“, rät AOK-Mann Kratzke. Mit „man“ sind dabei ausdrücklich auch die betroffenen Gemeinden gemeint, die sich zunehmend in einem Wettstreit untereinander befinden. „Die Frage ist: Was bieten wir für die Angehörigen der Ärzte, wenn sie an einen bestimmten Ort kommen?“

Für Oertel wie für Kratzke gehört die Zukunft sogenannten Medizinischen Versorgungszentren, in denen mehrere Ärzte Patienten versorgen. „Wir brauchen Gruppen von niedergelassenen Ärzten, die auch in Teilzeit zusammenarbeiten“, so Oertel. Die Kehrseite der Medaille wäre in diesem Fall allerdings, dass sich die Wege für Patienten verlängern würden. „Das wird möglicherweise auch unpersönlicher als heute, aber das ist der saure Apfel, in den man beißen muss. Von der Bequemlichkeit, dass in jeder zweiten Straße ein Arzt sitzt, müssen wir uns komplett verabschieden“, glaubt Oertel.

So weit will Maag noch nicht gehen. „Ich verabschiede mich noch nicht vom Hausarzt um die Ecke. Wir tun alles dafür, damit sich die Situation nicht weiter verschlechtert“, sagt sie am Ende. Und das ist doch noch eine zweite frohe Botschaft: Die Politik hat den Hausarzt noch nicht aufgegeben.