Beeindruckend: „Das kalte Herz“ am Staatschauspiel mit Caroline Junghanns Stuttgart Foto: JU_Ostkreuz

Schon der Intendanzstart von Armin Petras am Staatsschauspiel Stuttgart bot einen Glücksmoment: Autofahrt durch Stuttgart in „Autostück. Belgrader Hund“ von Anne Habermehl trifft den Zuschauer mitten ins Herz.

Stuttgart - Ach, wieder mal soll die Stadt entdeckt werden. „Schaut auf diese Stadt, die zeigen wir total neu“, so anbiedernd hätte das „Autostück. Belgrader Hund“ von Anne Habermehl auch gemeint sein können. Ausgerechnet die in einer Autofahrt durch Stuttgart bestehende Arbeit (über die höchstens ökologisch sehr Korrekte die Nase rümpfen) zum Intendanzstart von Armin Petras am Staatsschauspiel Stuttgart trifft den Zuschauer aber mitten ins Herz.

Wie selbstverständlich wird die Stadt zur Kulisse einer Inszenierung (Regie: Stefan Pucher, Tom Stromberg), erschienen die geschickt gewählten Orte und Unorte der Stadt im Dämmerlicht schön, befremdlich, geheimnisvoll. Zwei Menschen beobachtet man vom Rücksitz eines Autos aus. Zwei, die sich lieben, aber nicht verstehen. Menschen, die wie so viele in dieser Stadt nicht immer hier gelebt haben und die der Krieg in der Ex-Heimat auch in der neuen Heimat nicht wirklich loslässt. Matti Krause und Caroline Junghanns spielen auf den Vordersitzen des Autos, manchmal auch direkt neben einem, wenn man an einer einsamen Ecke gemeinsam das Auto verlässt und, mit Taschenlampen in den klammen Händen, eine Böschung hinaufstiefelt. Eine erste Theaterbegegnung der besonderen Art, gerade mit diesen beiden jungen talentierten Künstlern.

Es zeigt sich bei dieser Arbeit, was auch bei einer wichtigen neuen Inszenierung des Intendanten Armin Petras, Wilhelm Hauffs „Das kalte Herz“, so beeindruckte. Die gedanklich überaus offen und vorurteilsfrei wirkende Erkundung der Region, auch der Geschichte der Region – ohne irgendwie kitschig gemütlich oder besserwisserisch zu werden. Erkundet wurde das Land, nicht das Ländle. Vermeintlich Bekanntes wie Volkstanz entwickelte eingebettet in eine Inszenierung, die auch die Härte des Landlebens betonte, eine dunkel funkelnde Fremdheit, eine immer wildere Tanzveranstaltung, bei der Volkstanzmitglieder, Schauspieler, Publikum sich atemlos tanzen. So cool war der Schwarzwald selten.

Ein ziemlich toller Abend im nach dem von Petras-Vorgänger Hasko Weber tapfer durchlittenen Sanierungsmarathon wieder eröffneten Schauspielhaus. Ein Abend, der bei allem doch sehr vielen, was es da noch gab (riesengroße Kuckucksuhren, Waldvideos, Musik), auch von Schauspielkunst lebte. Manja Kuhl, als Fantasiegestalt mit geschwärzten Wangen umhergehend, gab mit lauernden Blicken den Szenen etwas Gefährliches, Caroline Junghanns als unter dem kaltherzigen Kohlenmunk leidende Lisbeth sang so klar und zart ein Lied, dass es einem selbst ganz kalt und heiß ums Herz wurde.

Überhaupt: die Frauen. Allen, wirklich allen, die da engagiert sind, sieht und hört man sehr gern zu bei ihrem Besonderssein, bei ihrer Lust, Text zu interpretieren, bei ihrem Gesang. Man staunt auch oft genug über ihren Witz. Anders als manchmal in den vergangenen Jahren musste niemand mehr neidisch auf andere Theater blicken. Vielleicht auch nur eine Frage der Zeit, bis Stücke wie Clare Boothe Luces „Die Frauen“ oder Filmadaptionen wie Ozons „8 Frauen“ oder Almodóvars „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“ auf dem Spielplan auftauchen.

Neben nach Stuttgart gezogenen Schauspielern, die seit Jahren im Kino, auf den Bühnen, Theatertreffen, Festivals zu erleben sind, Peter Kurth etwa oder Fritzi Haberlandt (die dem Haus sozusagen als festes freies Ensemblemitglied verbunden ist), waren viele Entdeckungen zu machen. Matti Krause, sehr charmanter Alter in Lindgrens „Ronja Räubertochter“. Der unglaubliche Stimm- und Körperakrobat Holger Stockhaus in Fritz Katers’ „5 morgen“. Anja Schneiders Näseln und Augenbrauenemporziehen, ihr Hüftschwung und Kaugummikauen im selben Stück. Die hochnäsig Pirouetten drehende Maja Beckmann in Goethes „Urgötz“, Energiewunder Wolfgang Michalek. Die wunderbar helle Stimme, das feinnervige Spiel von Astrid Meyerfeldt (die in Bergmans „Szenen eine Ehe“ auch für ihre Fitness Szenenapplaus bekam). Der wandlungsfähige, zwischen clownesk und tragisch changierende Paul Schröder in Schillers „Räuber“. Die Fahnenschwingende, des Lebens müde, schmollmündige Sandra Gerling in Tschechows „Onkel Wanja“ (ausgerechnet eine der weniger ausverkauften Produktionen, die zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde). Im selben Stück: Peter Kurths Monolog, in dem er mit einer melancholischen Lebensabrechnung anrührte.

Man kann natürlich immer auch etwas zu mäkeln finden. Dass abgesehen von den von anderen Theatern übernommenen Erfolgsstücken nicht jede der neuen Produktionen glückte. „Das Fest“ etwa zeigte, wie schwierig Filmadaptionen sind. Und manches in der als Experimentierstätte ausgewiesenen kleinen Nord-Bühne wirkte gewollt avantgardistisch. Der „Hirnbonbon“-Abend frei nach Dieter Roth zum Saisonfinale zum Beispiel geriet doch sehr naiv. Zu hoffen ist, dass der Regisseurin Christiane Pohle bei ihrer „Zauberberg“-Adaption in der kommenden Saison mehr einfällt, als Schauspieler immerzu in derselben Weise über Text staunen zu lassen. Nicht immer auch passten offenbar Stück und Regisseur so recht zusammen, von Thomas Jonigks Text war bei Niklas Ritters Godard-Abend im Nord jedenfalls eher wenig zu hören.

Samuel Becketts weise Worte von „Wieder versuchen. / Wieder scheitern. / Besser scheitern.“ gehören zum Theater. Und auch an den Abenden, bei denen man nicht mit allerhöchsten Glücks- und Nachdenklichkeitsgefühlen das Theater verließ, hatte man doch fast immer schauspielerisch Sehenswertes erlebt. In Zeiten, in denen auch schon das allerletzte Provinztheater mit darstellerisch wenig anspruchsvollen Stückentwicklungen dem vermeintlichen Zeitgeist hinterherhechelt und Performer statt Schauspieler engagiert, ist dieses Theater von Armin Petras und den Seinen mit diesen Schauspielern ein gar nicht genug zu lobendes Haus der Kunst.