Mehrere kleine Bühnen verteilen sich über den gesamten Weihnachtsmarkt und sorgen für Stimmung. Foto: Roberto Bulgrin

Bei der Aufzählung der schönsten Weihnachtsmärkte in Deutschland fehlt einer nie: der in Esslingen. Was hat er zu bieten, was andere nicht haben? Eine Spurensuche in der mittelalterlichen Budenstadt.

Es ist eigenartig: Egal, ob man in Nürnberg, Dresden oder Stuttgart ist: Man befindet sich immer auf dem schönsten Weihnachtsmarkt. Und so ist es auch in Esslingen. Nun ist Schönheit relativ, aber eines steht fest, wenn man durch die Brille von vier Freundinnen aus Ravensburg blickt. „Es lohnt sich, den Esslinger Weihnachtsmarkt zu besuchen.“ Eine zweistündige Fahrt mit dem Zug haben sie dafür auf sich genommen.

Eine von ihnen heißt Bianca Wöllhaf. Sie isst eine Alm-Pizza und trinkt einen Punsch mit Amaretto. Ihre Laune ist bestens, dabei fängt der Abend erst an. „Das ist jetzt unser Opening“, sagt sie. Eine Strategie, wie sie die verzweigte Altstadt von Esslingen erobern wollen, gibt es nicht. „Wir gehen einfach los.“ Was werden sie sehen?

Markenzeichen Mittelalter

Das Markenzeichen des Esslinger Weihnachtsmarktes ist der Mittelaltermarkt. Etwas anders formuliert könnte man auch sagen: Es ist die Verkleidung, in die sich Inhaber und Mitarbeiter der Buden, aber auch einige Gäste geworfen haben. Robust und einfach muss es aussehen, eher weit als eng. Es ist ein Mix aus Sackleinen, Wolle und Leder meist in dunkel getönten Farben. Ganz so, als wolle man die Erotik, die auf Massenfesten in helleren Jahreszeiten gerne mal spazieren geht, in Sack und Asche packen.

Auch die Buden signalisieren die Kultur des Burschikosen. Ein Pseudo-Wildschweinkopf gleich über dem Eingang, Wurzeln, die auf Dächern liegen (warum auch immer), Steine, die eine besondere Wirkung versprechen. Und immer wieder: Waffen. Die Spielzeugimitationen sind gleich an mehreren Ständen erhältlich, an einigen Buden kann man sie gleich ausprobieren. Unter der Augustinerstraße bietet Janine Schmitz Axtwerfen an. Ein Paar probiert sich aus. Der Mann ist geübt. Er haut jede Axt ins Ziel, während bei der Frau nicht eine einzige stecken bleibt. Janine Schmitz kommentiert klassisch: „Sie haben sich den Richtigen ausgesucht“. Wie die vier Freundinnen mit der Alm-Pizza kommt auch sie nicht aus Esslingen. Sie folgt konsequent der Spielidee, die das Fest mit einem Mythos umgarnen will: „Ich komme von weit her gereist.“

Holz dominiert

Das bestimmende Material auf dem Markt ist Holz. Aus Holz sind Hütten und Schilder, und sogar eine Toilette und die Feuerlöscher sind mit Holz umrandet. Hinter dem mit LED-Lampen beleuchteten Holzbudenzauber erheben sich alte Fachwerkhäuser oder das Gemäuer der mächtigen Stadtkirche – ganz so wie die Kulisse eines spektakulären Films. Und die Besucher sitzen nicht vor der Leinwand, sie wandeln mittendrin, trinken, essen und geben Geld aus, das an der einen oder anderen Bude auch Taler genannt wird. Es ist allerdings weit weg von der perfekten Illusion, denn niemand stört sich daran, dass jemand in vermeintlicher Mittelalterkluft das Handy am Ohr hat, dass die Möglichkeit der Kartenzahlung ausgewiesen ist, dass der Glühweinnachschub in großen Plastikbehältern angeliefert wird.

All das wäre übrigens nie so entstanden, wenn es nicht die Politik gäbe – sagen Stadtpolitiker. Eine kleine Gruppe hat sich zum privaten Treff zusammengefunden und debattiert über Klimawandel, Rundfunkbeitrag und den Werdegang der Kinder und Enkelkinder. Bis einer den Weg zurück in eine Zeit findet, die fast so weit weg ist wie das Mittelalter. Vor etwa zwanzig Jahren habe eine Initiative seiner Partei dazu geführt, den kleinen Markt zu einem großen auszuweiten. Andreas Koch war damals Vorsitzender der SPD-Ratsfraktion. Er erinnert sich an die Widerstände der Beschicker des „normalen“ Wochenmarktes, die nicht einsahen, für die Dauer des Weihnachtsmarktes vom angestammten Platz weichen zu müssen. Aber wie in jedem guten Politikerleben gab es erst eine Debatte und dann „eine Lösung des Problems auf breiter Basis“.

Der Slang und die Themen des Alltags aus dem 21. Jahrhundert also bleiben trotz der historisierenden Kulisse erhalten – auch an anderen Ständen. Es wird sehr viel von der Arbeit gesprochen, von der großen Politik und den hohen Preisen. Ansonsten Privates an der Oberfläche: Haus, Garten, Familie, Reisen, Gesundheit.

Auch ein Familienfest

Es ist auch ein Familienfest. Gestern stand Janine Schmitz noch bei der Axt, heute animiert und kassiert sie am Kinderkarussell. Ihre Frisur hat sich verändert, die Haare sind jetzt hochgesteckt. Auch ihre Wörter sind anders, kindgerecht. Aber eine Konstante ist drin. „Ich komme von weit hergereist“, hieß es bei der Axt. „Wir sind auf einer langen Reise“, ruft sie den Kindern zu, die für vier Taler eine kleine Ewigkeit durch die märchenhafte Luft fliegen.