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Nach vier Monaten wird Fluggerät mit Abfall vollgepackt und verglüht in der Atmosphäre.

Kourou/Bremen - Im Weltraumzentrum Kourou steigt die Spannung. Heute Abend soll ein Frachtschiff aus Europa zur internationalen Raumstation ISS fliegen. An Bord des Kolosses, der so groß ist wie ein Doppelstockbus: Lebensmittel, Luft und Post für die Astronauten.

Dienstag, 23.08 Uhr mitteleuropäischer Zeit. Mit ohrenbetäubendem Getöse steigt die Ariane in den Himmel über dem Weltraumzentrum Kourou im südamerikanischen Französisch-Guyana. Nach zwei Minuten ist die Rakete bereits nicht mehr mit bloßem Auge zu sehen, nur die kilometerhohe Rauchsäule bleibt noch lange Zeit zu erkennen.

So sieht das Szenario für den Start des Raumtransportes ATV (Automated Transfer Vehicle) aus. Warum sollte es nicht klappen? Die Ariane ist eine der zuverlässigsten Raketen weltweit, seit Jahren waren keine Fehlschläge zu verzeichnen. Bei der europäischen Raumfahrtagentur Esa dürfte dennoch so mancher Schweißtropfen vergossen werden. Das ATV, getauft auf den Namen des deutschen Astronomen Johannes Kepler, ist das technisch aufwendigste Fluggerät, das jemals in Europa gefertigt wurde. Mit zehn Meter Länge, einem Durchmesser von 4,5 Metern und einem Gesamtgewicht von 20 Tonnen ist es dreimal so groß wie die Progress-Lastentaxis russischer Bauart, die ebenfalls die ISS ansteuern. Und mit 450 Millionen Euro erheblich teurer.

Doch das ATV sei ein Raumfrachter für höchste Anspruche mit außergewöhnlicher Präzision, jubelt man bei der Esa. Acht Tage braucht das Schiff bis zur Raumstation. Flug, Annäherung an die Raumstation ISS und das Andockmanöver bei einer Geschwindigkeit von 28000 Kilometern in der Stunde: Alles erledigt Kollege Computer. Kein anderes Raumfahrzeug weltweit kann das. Die letzten Meter kriecht der tonnenschwere Frachter mit nur noch zehn Zentimetern pro Sekunde auf sein Ziel zu. Der Führungstrichter am Swesda-Modul, an dem das ATV ankoppeln soll, hat einen Durchmesser von nur 90 Zentimetern.

Die sechsköpfige Besatzung des fliegenden Labors erwartet die Ankunft schon sehnsüchtig. Im Frachtraum sind Lebensmittel wie Obst oder Wasser, Kleidung und Post für sie verstaut - aber auch Sauerstoff und Versorgungsmaterial für die ISS. Außerdem bietet ATV den Astronauten deutlich mehr Bewegungsfreiheit. Zu den sieben Tonnen Nutzlast zählen 4,5 Tonnen Treibstoff. Eine wichtige Aufgabe des Raumschiffs ist, die Flugbahn der ISS zu korrigieren. Die Station sinkt kontinuierlich in Richtung Erde und würde unweigerlich in der Atmosphäre verglühen, wenn sie nicht immer wieder einen kräftigen Schubs aus einem Raketentriebwerk bekommen würde.

Das ATV hingegen soll auf jeden Fall bei seiner Rückkehr in der Atmosphäre den Hitzetod sterben. Bis Anfang Juni bleibt der Frachter an der ISS angekoppelt, dann stopft es die Crew mit Abfällen und ausgedienten Geräten voll. Manch einer nennt das Schiff daher auch kosmischen Müllschlucker oder fliegenden Abfalleimer.

Noch mindestens drei davon sind bei EADS Astrium in Bremen bestellt. Doch die Experten denken bereits über das ATV-Zeitalter hinaus. ARV (Advanced Re-Entry Vehicle) lautet die Zauberformel für den nächsten Technologiesprung. Dahinter verbirgt sich die Vision eines bemannten Raumschiffs, das Platz für vier Astronauten bietet. Die Europäer könnten die Aufgaben der US-Raumfähren übernehmen, die im Sommer außer Dienst gestellt werden.

Das ARV ist eine verbesserte Version der Frachttransporter und soll ebenfalls im Bremer Werk von EADS Astrium entstehen. In fünf Jahren wäre ein Erstflug möglich, heißt es bei der Esa. Auf der Spitze einer Ariane montiert, könnten sich 2022 erstmals Raumfahrer an Bord eines Fluggeräts aus Europa auf den Weg ins All machen.

Im Internet fliegt die Fähre bereits, in der Realität muss die Esa geschätzte 2,4 Milliarden Euro Projektkosten auftreiben. Ob das gelingt, ist mindestens so spannend wie der Start heute Abend.

www.esa.int/SPECIALS/ATV/