2017 wurden laut der Bundeskriminalstatistik wöchentlich 250 Kinder Opfer von sexueller Gewalt. Foto: dpa

Kindesmisshandlung bleibt oft unentdeckt, denn egal ob Familie, Ärzte, Ämter oder Nachbarn: Zu viele schauen weg, kommentiert unsere Redakteurin Regine Warth.

Stuttgart - Im Schatten der politischen und gesellschaftlichen Aufgeregtheit über die Zuwanderung spielen sich tagtäglich in den Familien hierzulande Tragödien ab, die nur in spektakulären Fällen wie dem Staufen-Prozess Aufmerksamkeit erzielen. Denn das im Jahr 2000 im Bürgerlichen Gesetzbuch verankerte Recht auf eine gewaltfreie Erziehung wird allzu oft in Deutschland gebrochen: 2017 wurden laut der Bundeskriminalstatistik wöchentlich 250 Kinder Opfer von sexueller Gewalt, Missbrauch oder Misshandlungen. Die Dunkelziffer ist hoch. Viele Misshandlungen bleiben unerkannt.

Zu 90 Prozent ist die Familie der Tatort. Auch wenn die angeklagten Staufener Eltern diesen Anschein erwecken, so sind die gewalttätigen Mütter und Väter mehrheitlich keine Sadisten, angetrieben von der Lust, wehzutun. Meist sind es überforderte Eltern, die den Sohn oder die Tochter quasi zu Sündenböcken für ihre missglückte Lebensführung machen.

Pesonalmangel bei Behörden führt zu Fehlern.

Im Zentrum der Kritik stehen oft die Jugendämter. Alessio, Lilly oder Zoe sind die Namen kleiner Kinder, die zu Tode geprügelt wurden, weil das Jugendamt zu spät gekommen ist. Eine Studie der Hochschule Koblenz nennt einen eklatanten Personalmangel als zentralen Grund für das Behördenversagen. Während Experten empfehlen, dass sich ein Mitarbeiter um höchstens 35 Fälle gleichzeitig kümmern soll, halten nur gut zwei Drittel der Ämter diese Obergrenze ein.

Die Mitarbeiter müssen in Problemfamilien schwerwiegende Entscheidungen treffen: Ist es besser, das Kind sofort aus der Familie herauszunehmen – oder gibt es die Chance, auf das Verhalten der Familie einzuwirken? Fehlentscheidungen können Kinder körperlich und seelisch gefährden. Folglich sollte es der Staat nicht gänzlich den Kommunen überlassen zu entscheiden, wie sie ihr Jugendamt ausstatten. Für den Kinderschutz braucht es einheitliche Standards.

Datenschutz darf nicht über Kinderschutz stehen .

Auch Ärzte und Erzieher, Lehrer und Rechtsmediziner sind in der Pflicht. Das Problem: Die Betreffenden wissen nicht, wenn der andere Akteur den gleichen Misshandlungsverdacht hat. Daher ist die Forderung des Bundes Deutscher Kriminalbeamter richtig, dass der Datenschutz nicht über dem Kinderschutz stehen darf. Es ist nicht hilfreich, wenn ein Jugendamt oder eine Schule einem Kinderarzt die Auskunft verweigert, sobald dieser um Informationen über die Familiensituation eines Patienten bittet. Selbst Kinderärzte und andere Fachmediziner tauschen wegen der Schweigepflicht in Verdachtsfällen meist keine Diagnosen untereinander aus, wenn Eltern, die die Misshandlung eines Kindes vertuschen wollen, von einem Arzt zum anderen gehen. Es gibt keine einheitliche Informationsplattform. Da muss der Gesetzgeber unter speziellen Bedingungen für eine Lockerung sorgen.

Auch in der Gesellschaft hat die Privatheit einen hohen Stellenwert. Wegschauen ist angesagt, weil sich die allermeisten Menschen nicht in die Erziehung anderer einmischen wollen. Diese Maxime sollte Grenzen haben, wenn der starke Verdacht auf Missbrauch oder Misshandlung eines Kindes aufkommt. Dies ist ein schmaler Grat, weil nicht Schnüffelei im Verwandten- oder Bekanntenkreis die Motivation sein sollte. Vielmehr gilt es, die Sensibilität für Extremfälle im eigenen Umfeld zu schärfen. Es gibt genügend anonyme Beratungsangebote, an die sich Angehörige, Nachbarn oder Vereinskollegen wenden können, falls beispielsweise ein Kind verhaltensauffällig wird. Kinder brauchen, statistisch gesehen, acht Anläufe, bevor ihnen ein Erwachsener glaubt, dass sie missbraucht oder misshandelt werden. Diese Wege gilt es zu verkürzen.

regine.warth@stzn.de