Es sind die spektakulären Fälle von Kindesmisshandlung, die Aufsehen erregen, wie etwa in Staufen oder in Korntal. Doch in Kliniken und Praxen werden Ärzte und Mitarbeiter häufig mit Verletzungen bei Kindern konfrontiert. Foto: dpa-Zentralbild

Werden Kinder misshandelt, stellt sich stets die Frage: Hätte das nicht verhindert werden können? Kinder- und Jugendärzte schildern, wie schwierig es ist, ihre kleinen Patienten aus der Gefahrenzone zu bringen.

Stuttgart - Es gab da beispielsweise diesen kleinen Jungen, hier einmal Tobi genannt: Gerade einmal ein paar Monate alt, wurde er mit einem gebrochenen Oberschenkel ins Olgahospital in Stuttgart verlegt. Das sei beim Wickeln passiert, sagt der Vater. Doch es war nicht nur der Bruch, der die Ärzte stutzig werden ließ: Tobis Gehirn war ungewöhnlich stark angeschwollen. Eine genauere Untersuchung zeigt: In dem Gehirn des Säuglings ist es zu einer Blutung gekommen. Im medizinischen Bericht wird später stehen, dass aufgrund des Verletzungsmusters klar von einem Misshandlungsgeschehen auszugehen ist. Sprich: Das Baby wurde geschüttelt – in einem Anfall von Wut, Ohnmacht oder Überforderung.

Woche für Woche werden der jüngsten Statistik des Bundeskriminalamts zufolge hierzulande 250 Kinder Opfer von sexueller Gewalt, von Missbrauch oder von Misshandlungen. Das sind im statistischen Durchschnitt 36 Kinder pro Tag. In Wirklichkeit liegt die Zahl wohl noch weit darüber, sagt der Kinderarzt Andreas Oberle. Der Ärztliche Direktor leitet nicht nur das Sozialpädiatrische Zentrum am Klinikum Stuttgart, sondern ist Teil des Kinderschutzteams, in dem Kinderärzte, Pflegende, Sozialpädagogen und Jugendamt eng zusammenarbeiten.

Oft sehen Ärzte misshandelte Kinder, bei denen es keine äußerlichen Spuren gibt

Das Team erhält Kenntnis über jeden kleinen Patienten, der in die Kinderklinik eingeliefert wurde und bei dem die Ärzte den Verdacht haben, dass sein Kindeswohl gefährdet ist. Beispielsweise bei Verletzungen von körperlicher Gewalt: Ein Kind wird geschüttelt, geschlagen oder hart geschubst, so dass es fällt. Es kommt zu blauen Flecken, teils Knochenbrüchen – oder auch zu schlimmeren Verletzungen wie Hirnblutungen oder Verbrühungen. „Es gibt aber auch Fälle, bei denen wir aufmerksam werden, obwohl äußerlich gar nichts zu sehen ist“, sagt Oberle. Etwa wenn ein Kind sich schlecht konzentrieren kann, ständig müde ist, außergewöhnlich ängstlich oder auch aggressiv ist. „Ist irgendwas in der motorischen oder körperlichen Entwicklung auffällig, fangen wir an, genauer nachzuhaken.“ Und das vorsichtig – denn es gilt, das Vertrauen der Eltern zu gewinnen.

Dies ist wichtig, auch wenn medienwirksame Fälle den drastischen Eindruck erwecken, dass Kinder vor allem aus Lust an der Qual misshandelt werden. Wie beispielsweise in Korntal, wo in einer Brüdergemeinde in der Zeit zwischen 1945 und 1980 knapp hundert Kinder missbraucht und gequält worden sind. Oder der Fall des neunjährigen Jungen aus Staufen im Breisgau, der von den Eltern jahrelang im Internet zur Vergewaltigung angeboten wurde. Doch das sind statistisch gesehen eher Extrembeispiele, wie die Landesärztekammer Baden-Württemberg bestätigt. „Das Gros der Gewalt gegenüber Kindern“, so sagt es der Pressesprecher Oliver Erens, „entsteht häufig aus der elterlichen Überforderung heraus.“

Gefährdet sind auch die chronisch kranken Kinder oder Schreibabys

Die klassischen Fälle sind sehr junge Eltern mit Kindern. Sie sind mit der Situation überfordert, haben häufig wechselnde Partner. Es gibt keinerlei feste Familienstruktur, kein soziales Umfeld, das sie unterstützt. Gefährdet sind auch die chronisch kranken Kinder oder Schreibabys, weil die Pflege und Betreuung sehr viel Geduld seitens der Eltern abverlangt – was nicht immer gegeben ist. Und auch wenn statistisch gesehen Kindesmisshandlung an keinerlei soziale Schicht gebunden ist, so gilt es dennoch als erwiesen, dass Armut und sonstige soziale Probleme eine große Rolle dabei spielen.

Auch Tobis Mutter konnte zu ihrem Kind keine Nähe aufbauen. Schrie das Baby, vermied sie den Körperkontakt. Beim Vater wiederum wurde eine psychische Erkrankung festgestellt. Das Kinderschutzteam ist sich einig: Passiert jetzt nichts, ist Tobis Wohl gefährdet. Also werden Hilfen eingeleitet, mit der die Mutter dabei unterstützt werden soll, sich um das Kind zu kümmern.

Es hakt an vielen Schnittstellen, klagen die Ärzte

Die deutsche Rechtsprechung ist eindeutig: Gewalt gegen Kinder muss man früh erkennen und konsequent unterbinden. Die strittige Frage ist nur: Wie soll das gelingen? Zwar hat es Deutschland sich zum Ziel gesetzt, „das Wohl von Kindern und Jugendlichen zu schützen und ihre körperliche, geistige und seelische Entwicklung zu fördern“. So steht es seit 2012 im Bundeskinderschutzgesetz. Auch sind umfangreiche Maßnahmen zum Schutze der Kinder eingeführt worden: Netzwerke zwischen Ämtern, Medizinern und Pädagogen beispielsweise. Oder Krisendienste und Hilfetelefone. In Ulm gibt es sogar seit 2014 ein Kompetenzzentrum Kinderschutz in der Medizin, um Ärzte und Pfleger zu schulen. „Doch es hakt noch gewaltig an vielen Schnittstellen“, sagt der Tübinger Kinderarzt Joachim Suder.

Das Problem: nicht überall reden alle miteinander. „Das fängt schon an, dass Frauenärzte, die eine Schwangere betreuen, die aus einem sozial problematischen Umfeld kommt, diese Information nicht unbedingt an den Kinderarzt weiterleiten, der das Baby im Anschluss betreut“, sagt der niedergelassene Kinderarzt.

Der Datenschutz behindert die Zusammenarbeit mit den Behörden

Auch die Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Behörden vor Ort wie beispielsweise dem Jugendamt funktioniere in vielen Kommunen nicht gut genug, ergänzt der Landesvorsitzende des Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, Roland Fressle. Es komme oft vor, dass Kollegen Meldungen an die Ämter weiterleiten – und es heißt dann: Man könne aus Datenschutzgründen keine Rückmeldung geben. „Es braucht endlich eine gesetzliche Grundlage, die einen solchen Informationsaustausch erlaubt“, sagt Fressle, mit Joachim Suder und Andreas Oberle im Ausschuss „Kinder und Jugendliche“ der Landesärztekammer sitzt.

Das setzt auch voraus, dass es genügend Menschen gibt, die Zeit haben, genauer hinzuschauen. Doch erst Mitte Mai hat eine Studie der Hochschule Koblenz ergeben: Es gibt viel zu wenig Personal in den Jugendämtern, um Kinder zu schützen und Familien zu unterstützen. Auch bei den Ärzten ist nach Schilderungen des Tübinger Mediziners Joachim Suder der Beratungsbedarf noch groß: Oft wissen sie nicht, was sie konkret tun müssen, wenn sie bei einem Kind den Verdacht hegen, dass es misshandelt, vernachlässigt oder missbraucht wurde.

Nicht wgeschauen!

Andreas Oberle und das Kinderschutzteam wissen, dass sie in einer privilegierten Situation sind: Längst nicht alle Kliniken haben ein solches Expertenteam, wie sie es stellen können. Und auch das gelingt nur, weil dieses Engagement von der Stadt Stuttgart finanziell unterstützt wird. Hinzu kommt: Im Olgahospital können Verdachtsfälle systematisch untersucht werden – im Jahr sind das rund 400 Kinder. Dennoch muss das Netz noch dichter werden, um Kinder wirklich vor Übergriffen zu schützen. Und zwar nicht nur seitens der Ärzteschaft, der Erzieher und Lehrer oder des Jugendamts. „Missbrauch und Misshandlung sind hauptsächlich Beziehungstaten“, sagt Oberle. „Wir alle, die wir mit Kindern leben und arbeiten, müssen bemerken, wenn es Kindern nicht gut geht.“ Und Hilfe holen.

Notruf +49800 19 210 00

Die „Medizinische Kinderschutzhotline“ ist ein vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördertes, bundesweites, kostenfreies und 24 Stunden erreichbares telefonisches Beratungsangebot für Angehörige der Heilberufe bei Verdachtsfällen von Kindesmisshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Kindesmissbrauch.