Das historische Zentrum von Korntal ist auch die Mitte der evangelischen Brüdergemeinde. Über die Aufarbeitung spricht sie bisher nur in ihren eigenen Reihen. Foto: factum/Archiv

In der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in Kinderheimen der Brüdergemeinde sollen nun Wissenschaftler das Wort haben. Die Opfer wollen aber vor allem eines: ihre Fälle sollen schnell auf den Tisch kommen. Der aus Regensburg bekannte Jurist Ulrich Weber könnte helfen.

Korntal-Münchingen - Am Anfang war der Wille groß: Als das ehemalige Heimkind Detlev Zander 2014 den Missbrauch in den Kinderheimen der evangelischen Brüdergemeinde öffentlich machte, sagte die Korntaler Pietistengemeinde alsbald zu, sich dem unrühmlichen Kapitel ihrer Vergangenheit stellen zu wollen. Sie bekundete den Willen zur Aufarbeitung der Vorfälle in ihren diakonischen Einrichtungen, eben jenen Kinderheimen. Am Ende dieses Prozesses sollte eine schriftliche Dokumentation stehen. Ein Jahr später ist davon keine Rede mehr. Die Aufarbeitung hat sich zu einem so umfassenden Projekt entwickelt, dass es mit einer Dokumentation allein längst nicht mehr getan ist.

Zuletzt ist es ruhig geworden, nachdem die Wissenschaftlerin Mechthild Wolff im Dezember das Ende der mit Betroffenen und Brüdergemeinde-Vertretern besetzten Steuerungsgruppe erklärt hatte. Nun aber gibt es wieder Unruhe, seit Zander Ulrich Weber als möglichen neuen Vermittler ins Spiel brachte: Dieser gilt als Chefaufklärer im Missbrauchsskandal der Regensburger Domspatzen.

Viele Wünsche sind in Konzept eingeflossen

Die Steuerungsgruppe hat das Konzept einer mehrjährigen Aufarbeitung erarbeitet. Viele Wünsche der Betroffenen wurden darin aufgenommen. Ein letztes Treffen ist für die kommende Woche geplant. Die juristsche Aufarbeitung und die sozialwissenschaftliche Forschung gehen in die Verantwortung von bundesweit agierenden Juristen und Wissenschaftler über, unter der Leitung Wolffs. Eine Vertrauensperson der Betroffenen sollte den Part übernehmen, mit den Pietisten über die Anerkennungsleistungen zu verhandeln. Wolff hat den Betroffenen dafür Namen genannt. Sie selbst würde es nicht machen, das hat sie stets betont. Denn einerseits soll so die Unabhängigkeit der Wissenschaft gewahrt bleiben. Andererseits war klar, dass sie mit dem Ende der Steuerungsgruppe auch den Betroffenen eine Chance geben wollte, nach Streitigkeiten neu zusammenzufinden. „Frau Wolff hat immer wieder Krisenintervention gemacht“, sagt Zander zur Debatte zwischen Brüdergemeinde und Betroffenen sowie den Betroffenen untereinander.

Noch hat die wissenschaftliche Aufarbeitung nicht begonnen. „Die telefonische Meldestelle geht in den nächsten vier Wochen an den Start“, sagt Wolff. Die Anlaufstelle soll Betroffenen eine Möglichkeit geben, im Rahmen der Aufarbeitung ihre Erlebnisse aus ihrer Heimzeit zu schildern, später sollen Workshops mit ihnen folgen. Wie hoch die Beteiligung sein wird, ist offen. Von der anfänglichen Euphorie, durch das Berichten und Aufarbeiten Frieden mit ihrer Kindheit zu machen, ist wenig geblieben. Zurückhaltung und Misstrauen prägen das Verhalten vieler Ex-Heimkinder, zumal die Brüdergemeinde darauf beharrt, als Anerkennung des Leids nur Sachleistungen zu gewähren.

Ulrich Weber hat sich in Regensburg einen Namen gemacht

Umso mehr schöpften die Heimopfer Hoffnung, als mit Ulrich Weber als möglicher Vermittler ein Mann genannt wurde, der sich in Regensburg einen Namen gemacht hat. Zuletzt hatte der Jurist eine große Öffentlichkeit, als er eine vorläufige Bilanz seiner dortigen Arbeit zog. Zwar wird die Zustimmung zu ihm durch gegenseitige Anfeindungen der Betroffenen in den sozialen Medien in Frage gestellt. Aber in ihrer ersten Reaktion haben die beiden zerstrittenen Opfergruppierungen ihr Ja bekundet. Sie erwarten von Weber eine Offenlegung und Zusammenstellung der Fälle psychischer und physischer Gewalt, von sexuellem Missbrauch, Prügel, Zwangsarbeit und Unterschlagung von Taschengeld, Post und Familieninformationen. Manch Betroffener will erst spät aus Archivakten erfahren haben wollen, Geschwister zu haben.

Weber selbst hat sich noch nicht entschieden, ob er sich auf die Aufgabe der Aufklärung einlässt, also Akten sichtet, bewertet und so den Weg für Anerkennungsleistungen ebnet. Der Jurist hält sich bedeckt. „Die Betroffenen sehen die Aufklärung als Basis einer anschließenden Aufarbeitung. Im Grundsatz teile ich diese Meinung.“ An diesem Donnerstag gibt es ein Treffen von Zander, Wolff und ihm. Wolff plädierte stets für die Förderung der Selbsthilfe. Sie begrüßt es deshalb, wenn die Betroffenen eine Person ihres Vertrauens finden. Sie sagt aber auch: „Wir müssen vermeiden, dass wir doppelte Arbeit machen.“ Das geplante, interdisziplinäre Projekt solle ja Aufklärung schaffen. Die Frage sei doch, wie man im Sinne der Aufarbeitung voneinander profitieren könne.

Die evangelische Brüdergemeinde schweigt sich zu alledem bisher aus.

Kommentar: Das Erreichte befriedet nicht

Innerhalb nur eines Jahres hat sich die evangelische Brüdergemeinde Korntal eingelassen auf eine Aufarbeitung, die in ihrer Dimension bundesweit ihresgleichen sucht. Die Projektleiterin Mechthild Wolff kann zufrieden sein mit dem Erreichten. Für die Betroffenen selbst war das Jahr aber zu lang. Zu wenig ist von den Zugeständnissen sichtbar, die die Betroffenen und Wolff der Täterorganisation abgerungen haben. Da mag Wolff noch so sehr darauf verweisen, dass die Aufarbeitung nun erst richtig beginne. Die ehemaligen Heimkinder befriedet es auch nicht, dass die Aufarbeitung für die Pietisten und deren Diakonie eine extreme Herausforderung ist. Zum Vergleich: die Odenwaldschule wurde letztlich gar geschlossen.

Die Betroffenen wollen, dass das Ausmaß der Vorfälle benannt wird und sie für ihr Leid entschädigt werden. Doch sie müssen sich gegen die Brüdergemeinde behaupten, die vor allem durch Schweigen auffällt. Der Regensburger Anwalt Ulrich Weber könnte ihnen helfen – allein dadurch, dass er ihnen mit seiner Bekanntheit, die er durch die Domspatzen erlangt hat, zu einer neuen Öffentlichkeit verhilft.