In den Heimen der evangelischen Brüdergemeinde waren Kinder jahrzehntelang Opfer von Gewalt. Foto: dpa

Nicht alles, was ehemalige Korntaler Heimkinder aufklären wollen, wurde im Aufklärungsbericht bearbeitet. Ein Gespräch mit dem Aufklärer Benno Hafeneger über Verdrängen, Wegschauen und Vertuschen und den Druck der Opfer.

Korntal-Münchingen - Nicht alles, was ehemalige Heimkinder aufklären wollen, wurde in dieser Untersuchung bearbeitet. Ein Gespräch über Verdrängen, Wegschauen und Vertuschen und den Druck der Opfer.

Überrascht Sie die Kritik an Ihrem Bericht? Es sind ja nicht nur etliche Opfer, sondern auch Fachverbände unzufrieden damit.

Nein, es wäre eher verwunderlich gewesen, wenn es keine Kritik gegeben hätte. Es gibt immer kritikwürdige Punkte, wie wir es gerade auch beim Bericht über die sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche erleben. Das gehört zum wissenschaftlichen Geschäft, ermöglicht erst produktive Kontroversen und generiert weitergehende Fragen und Deutungen. Die Frage ist, wie seriös und gehaltvoll die Kritik ist. Mir ist nicht bekannt, dass es Kritik von mehreren Fachverbänden gegeben hätte. Die Kritik, die von einer einzigen Kontakt- und Informationsstelle kam, ordne ich nicht einem seriösen wissenschaftlichen Diskurs zu. Dass es aus unterschiedlichen Gründen immer auch Betroffene gibt, die unzufrieden sind und bleiben, ist aus vielen Aufarbeitungsprozessen bekannt.

Das gilt auch für Korntal.

Das ist zu akzeptieren. An alle Seiten ist zu appellieren, miteinander im Gespräch zu bleiben.

Sind denn die Vorwürfe allesamt haltlos?

Natürlich gibt es einzelne Anmerkungen, die interessant sind; einen will ich andeuten. Pfarrer Grünzweigs Predigten wurden nicht untersucht, weil wir die „schwarze Pädagogik“, die sich vielleicht in ihnen finden lässt, aus den Archivmaterialien gut erschließen konnten.

„Schwarze Pädagogik“ bezeichnet Erziehungsmethoden, die Gewalt und Einschüchterung umfassen. Bleiben wir bei Pfarrer Grünzweig. Opfern zufolge hatte der Hausmeister, der als Haupttäter gilt, auch nach Grünzweigs Verweis weiterhin Kontakt mit Kindern. Wie war das möglich?

Natürlich haben wir versucht, das zu klären. Aus den Akten ist das nicht ersichtlich und die Mitglieder der Gremien und der Heimleitung leben nicht mehr. Meine Deutung ist, dass in Unkenntnis und ohne Blick auf Strukturen, Mentalitäten, Risikofaktoren und Täterstrategien Vorstand und Heimleitung dachten und hofften, das pädokriminelle Verhalten des Hausmeisters sei einmalig gewesen. Und dass er dies nach Verweis, Kontaktverbot und Wohnungswechsel einstellen würde. Ob und wer in der Folge von seiner sexualisierten Gewalt gewusst hat, ob hier um der Institution willen weggeschaut, geschwiegen, vertuscht, bagatellisiert oder gar stillschweigend geduldet worden ist, darüber kann nur spekuliert werden. Fakt ist, dass er weiterhin und lange Zeit – sich wohl in Sicherheit wiegend – Jungen sexualisierte Gewalt angetan hat und es keine Strafanzeige gab.

Ein verstorbener Wohltäter der Gemeinde steht bei Betroffenen weiter im Fokus. Im Aufklärungsbericht verweisen Sie aber auf widersprüchliche Opferangaben. Haben Sie nicht versucht, in der Gemeinde mehr über den Mann zu erfahren?

Die Studie war nicht als Lokal- oder Gemeindestudie oder als Bevölkerungsbefragung angelegt. Eine so breite, über die Institutionen hinausgehend angelegte Untersuchung gibt es in den Aufarbeitungsprozessen bisher nicht. In den Akten findet sich kein Hinweis auf diese in der Gemeinde ehrenamtlich tätige Person.

Betrachten Sie Ihre Arbeit als beendet?

Ja, das gilt für die Analyse von Akten und Archivmaterial sowie die Auswertung von den Gesprächen, die in den Bericht eingingen. Inzwischen gab es weitere Interviews, zahlreiche Gespräche sind bis Jahresende terminiert. Man muss abwarten, ob es einer ergänzenden Auswertung bedarf.

Zu Beginn Ihrer Recherche betonten Sie, die Brüdergemeinde nehme keinen Einfluss auf Ihre Arbeit. Ist es dabei geblieben?

Nur unter der Voraussetzung von Untersuchungsfreiheit haben wir den Auftrag der Auftraggebergruppe angenommen. Sie, nicht die Brüdergemeinde, war dafür zuständig. Die Brüdergemeinde hat keinen Einfluss genommen.

Die Aufarbeitung von Missbrauch in Institutionen ist hierzulande längst nicht so weit wie etwa in Kanada oder Irland. Schaute auch die Wissenschaft zu lange weg?

Ja, wie Gesellschaft und Politik hat auch die Wissenschaft lange weggeschaut, hat diese unvorstellbare und erschütternde Seite der bundesdeutschen Erziehungsgeschichte verdrängt und nicht wahrgenommen. Erst mit den Berichten des Runden Tisches der Bundesregierung, journalistischen Recherchen und dem Buch „Schläge im Namen des Herrn“ von Peter Wensierski und vor allem mit den Aktivitäten der Opfer nahm das wissenschaftliche Interesse zu. Gleichzeitig hatten kirchliche und staatliche Träger von Heimen lange kein Interesse an einer wissenschaftlichen Aufklärung dieser verdrängten Geschichte. Widerstände gibt es bis heute. Dabei kam die Aufarbeitung durchweg nicht aus eigenem Antrieb. Erst die öffentliche Debatte und der Druck der Opfer führten zur Aufklärung.

Würden Sie den Auftrag heute genauso wieder annehmen?

Ja, weil die Konstruktion der Auftraggebergruppe in die richtige Richtung weist. Weiter waren die Voraussetzungen für seriöses wissenschaftliches Arbeiten gegeben, es gab keine Reglementierungen. Gleichzeitig muss man sich als Wissenschaftler mit erschütternden Berichten und Ergebnissen von Gewalt an Schutzbefohlenen auseinandersetzen und weiß, dass nur ein Hellfeld ausgeleuchtet wurde und es ein weiteres Dunkelfeld gibt. Dabei leitet mich ein der Aufklärung, dem Kindeswohl und der Humanität verpflichtetes Professionsverständnis, das zur Aufhellung einer dunklen Vergangenheit beitragen will, wie Macht über Kinder missbraucht wurde. Für die Institutionen geht es dann nicht nur um „Reparaturarbeiten“, sondern um ihre Glaubwürdigkeit mit wirklichen und wirksamen Konsequenzen.