„Dass sich der Beschluss der Familienrichter am Ende in tragischer Weise als falsch erwies, ist offensichtlich“, sagt Michael Günter. Dennoch rät er, nicht voreilig Fehler zu unterstellen sondern den Fall genau zu untersuchen. Foto: Die Arge Lola

Der Stuttgarter Kinderpsychiater Michael Günter hat schon in vielen Familiengerichtsverfahren als Gutachter mitgewirkt. Es sei wichtig, Kinder selbst anzuhören, sagt er. Doch ob das im Missbrauchsfall von Staufen geholfen hätte, weiß Günter nicht.

Stuttgart - Nach der Aufdeckung des Missbrauchsfalls von Staufen bei Freiburg stehen auch das Familiengericht und das Jugendamt des Landkreises Breisgau-Hochschwarzwald in der Kritik. Sie schickten den neunjährigen Buben unter Auflagen in die Familie zurück, obwohl eine klare Gefährdung gesehen wurde. Das Elternrecht gehe gegenüber dem Kinderrecht oft vor, sagt der Stuttgarter Kinderpsychiater Michael Günter.

Herr Professor Günter, wie kann es sein, dass ein Kind wegen des Verdachts des Missbrauchs vom Jugendamt aus einer Familie herausgenommen wird und das Familiengericht ihn dann einfach zurückschickt?
Dass sich der Beschluss der Familienrichter am Ende in tragischer Weise als falsch erwies, ist offensichtlic. Die Frage ist, ob da fahrlässig gehandelt wurde. Und ich denke, da muss man aufpassen. In der Regel wird in Sorgerechtsfällen unglaublich viel überlegt und diskutiert. Soll man das Kind herausnehmen oder nicht? Gerade der Freiburger Senat des Oberlandesgerichts ist mir als besonders gewissenhaft bekannt.
Fehlt es vielen Richtern trotzdem an Fachkompetenz wie die Famlienministerin sagt?
Diese Reaktion aus der Politik ärgert mich. Jetzt wie Frau Barley Schulungen für Richter zu fordern, ist zu einfach und kommt mir etwas populistisch vor. Zunächst sollte man den Fall genau untersuchen und aufarbeiten. Dann kann man erkennen, ob und gegebenenfalls wo gravierende Fehler gemacht wurden. Ein Problem ist, dass der Europäische Gerichtshof die Elternrechte so sehr gestärkt hat, und dass dies auf Kosten der Kinderrechte ging.
Der Grundsatz lautet: eine schlechte Familie ist immer noch besser als gar keine Familie.
Weder so herum, noch anders herum ist es richtig. Die Frage, die man sich in Sorgerechtsverfahren stellen muss, ist: Gibt es Möglichkeiten, die Familie so zu stärken, dass es zwar nicht ideal – das wird es in solchen Fällen nie – aber tragbar und verantwortbar ist, das Kind in der Familie zu belassen. Eigentlich ist die Situation am Familiengericht nicht schlecht, weil da Juristen, Pädagogen und Psychiater zusammenkommen. Jede Fachrichtung denkt unterschiedlich, sodass eine gute Entscheidung auf breiter Grundlage möglich ist.
Im vorliegenden Fall ist das offenbar nicht gelungen. Es war kein Psychiater da. Nicht einmal das Kind wurde angehört.
Eigentlich gibt es eine Verpflichtung dazu. Kinder müssen oder sollten angehört werden, nur bei jüngeren Kindern kann das Gericht davon absehen, wenn es gravierende Gründe dafür gibt. Ob die im vorliegenden Fall vorlagen, weiß ich nicht. So wie ich es kenne, hören die Gerichte in beiden Instanzen die Kinder an. Ab dem Alter von drei Jahren können Kinder auch schon ganz gut Angaben zu ihren Wünschen, Bindungen und zu ihrem Erleben machen. Man muss sie natürlich altersgerecht anhören.
Die beteiligten Gerichte sagen, sie hätten den Buben schonen wollen.
Wir haben das beforscht und durchgängig festgestellt, dass der Augenblick der Aussage natürlich eine akute Belastung für ein Kind darstellt – das Ganze ist aufregend. Langfristig sind aber keine nachhaltigen Beeinträchtigungen bei den Kindern zu befürchten. Ein Neunjähriger ist dem in der Regel gewachsen. Andererseits will man natürlich in solchen Fällen zusätzliche Belastungen vermeiden.
Dann war der Verzicht auf die Anhörung aus Ihrer Sicht möglicherweise ein verhängnisvoller Fehler?
Ob eine Anhörung zu einem anderen Ergebnis geführt hätte, lässt sich schwer sagen. Oft sagen die Kinder gerade in den ganz schlimmen Fällen, dass alles bestens sei und sie zu Hause bei der Familie bleiben wollen. Was da in Freiburg zu dieser für das Kind entsetzlichen Fehleinschätzung führte, ließe sich nur bei genauer Kenntnis des gesamten Verfahrens sagen.
Wie finden Sie in solchen Fällen dann die Wahrheit heraus?
Das ist eine sehr komplexe Arbeit, bei der sehr viele Gesichtspunkte berücksichtigt und systematisch bearbeitet werden müssen. Letzten Endes hat eine solche Einschätzung auch viel mit Erfahrung und Intuition zu tun hat. Ich schaue zum Beispiel, ob das Kind frei und kindgemäß erzählt oder ob es irgendwo mauert und das, was es sagt, teilweise einstudiert oder wenig kindgerecht wirkt. Wir setzen viele Puzzleteile aus unseren Untersuchungen zusammen und schauen, ob sich ein stimmiges Gesamtbild ergibt. Viel lässt sich auch aus der Interaktion zwischen Eltern und Kind schließen. Aber eine hundertprozentige Sicherheit gibt es in den wenigsten Fällen.