Landratsamt in Freiburg: Auch missbrauchte Kinder wollen spielen, lernen und fröhlich sein. Foto: dpa

Es gibt nicht das eine Anzeichen dafür, dass ein Mädchen oder ein Junge sexuell missbraucht wird. Aber wenn Kinder ihr Verhalten plötzlich ändern, sollten Erwachsene genau hinschauen und vor allem: Zuhören.

Stuttgart - Wenn sich Kinder plötzlich verändern, sollten bei allen die Alarmglocken schrillen. Es gebe keine typischen Hinweise für sexuellen Missbrauch, sagt Ursula Enders, die Mitbegründerin und Leiterin von Zartbitter in Köln, der Kontaktstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen. Manche Kinder werden aggressiv, zeigen plötzliche Wutausbrüche. Andere ziehen sich komplett zurück, bekommen Depressionen, schlafen schlecht, haben Albträume. Solche Verhaltensauffälligkeiten seien aber in jedem Fall Hilferufe, weil Kinder ihre Nöte oft nonverbal zum Ausdruck brächten. In diesen Fällen „geht es darum, dass wir uns als vertrauenswürdig erweisen, damit Kinder spüren, dass wir betroffenen Mädchen und Jungen glauben, und sie sich uns anvertrauen können“.

Die 64-jährige Erziehungswissenschaftlerin beschäftigt sich seit Anfang der 90er-Jahre mit sexuellem Missbrauch. Sie hat dazu mehrere Bücher verfasst und bei der Erarbeitung diverser Handlungsleitfäden mitgearbeitet. Der Neunjährige aus Freiburg, der von der eigenen Mutter und deren Freund vergewaltigt und an Freier vermittelt worden sein soll, sei sicher schwer traumatisiert. Dennoch habe er die Chance, später ein normales Leben führen.

Politik und Kassen vernachlässigen Therapieangebot

„Ganz entscheidend ist die Hilfe, die der Junge jetzt bekommt“, sagt Enders. „Unser Problem ist nicht, dass es keine fachlichen Standards für Hilfen gibt. Das Problem ist, dass es in Deutschland viel zu wenig Hilfen für betroffene Kinder gibt.“ Dieser Bereich werde von der Politik und den Krankenkassen vernachlässigt, kritisiert die Zartbitter-Chefin. Viele Kinder müssten ein halbes oder ein ganzes Jahr auf einen Therapieplatz warten, viele andere bekämen überhaupt keinen Platz.

In Baden-Württemberg gibt es nach Angaben des Sozialministeriums zurzeit 23 Krankenhäuser an 36 Standorten mit dem Fachgebiet Kinder- und Jugendpsychiatrie und -therapie. Dort stehen 621 vollstationäre und 338 teilstationäre Plätze zur Verfügung. So werden beispielsweise an der Universitätsklinik in Ulm Kinder und Jugendliche traumatherapeutisch behandelt. Schon vor sechs Jahren hat eine vom Sozialministerium in Auftrag gegebene Beurteilung des Versorgungsangebots gezeigt, dass es gerade in der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Land Engpässe gebe.

Betroffene darf man nicht auf Opferrolle reduzieren

Doch nach der Einschätzung von Ursula Enders ist oft gerade in solchen Fällen wie in Freiburg, wo der Missbrauch mutmaßlich innerhalb der Familie stattgefunden hat, eine stationäre Unterbringung in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie sinnvoll. Denn für diese Kinder seien Familienstrukturen eben kein Schutzraum mehr, sondern im Gegenteil ein unsicherer Ort. „Missbrauchte Kinder dürfen nicht zu früh in familienähnliche Strukturen zurückkehren, weil sie sonst sehr häufig reinszenieren, was sie erlebt haben“, warnt Enders.

Eine therapeutische Einrichtung könne hingegen den Schutzraum bieten, den die traumatisierten Kinder dringend bräuchten, um wieder Sicherheit zu erlangen. Missbrauchte Kinder blieben in ihrer seelischen Entwicklung stehen. Der Neunjährige aus Freiburg brauche nun die Ruhe und den Raum, damit seine Seele nachwachsen könne.

Wichtig sei, sexuell missbrauchte Kinder nicht auf den Missbrauch zu reduzieren, sondern sie weiter Kinder sein zu lassen, die spielen, lernen, fröhlich sein wollen. „Wenn man das Kind nur als Opfer sieht, macht man das gleiche wie der Täter. Man macht es zum Objekt“, erklärt Enders.

Bei Zartbitter Köln, der bei der Gründung vor 31 Jahren neben dem Verein Wildwasser eine der ersten Stellen zu diesem Themenfeld war, gibt es pro Jahr 800 bis 900 Beratungen. Eine immer größere Rolle spielten dabei Fotos und Videos, die im Internet landeten. Um Kinder zu schützen, helfe es schon, wenn sie bestärkt würden in ihren Rechten, sagt Ursula Enders: „Erwachsene müssen lernen, bestimmte Dinge im Alltag ganz selbstverständlich anzusprechen wie: Dein Körper gehört dir, es gibt schöne und blöde Geheimnisse, und du hast ein Recht an deinem eigenen Bild.“