Urteile behandeln immer die Schuld des Einzelnen. Foto: imago images/ingimage

Ein Kinderschänder bekommt drei, ein Cannabis-Dealer sechs Jahre Haft: Für einige Menschen sind Strafmaße bei Gerichtsurteilen wenig nachvollziehbar. Ein Richter erklärt, woran das liegen kann.

Stuttgart - Wer sich in sozialen Medien die Kommentare unter Texten zu Gerichtsurteilen anschaut, stößt schnell auf zwei Fraktionen: Die einen halten Urteile, etwa im Falle von Kindesmissbrauch, für zu lasch, die anderen wollen lieber schwächere Strafen sehen, zum Beispiel, wenn es um den Verkauf von Cannabis geht.

Wolfgang Tresenreiter ist Mitglied im Verein der Richter und Staatsanwälte in Baden-Württemberg. Seit 20 Jahren entscheidet er über schwere Straftaten. Er sagt: „Selbst wenn zwei Personen das Gleiche machen, mag es unterschiedliche Urteile geben.“ Im Interview erklärt er, warum das so ist.

Herr Tresenreiter, ein Mann wird wegen des dreifachen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes zu drei Jahren Haft verurteilt. Vielen Menschen sind Urteile wie diese zu milde. Wie kommt so ein Strafmaß zustande?

Es geht immer um die Schuld des Einzelnen und die setzt sich aus vielen Punkten zusammen. Der sexuelle Missbrauch eines Kindes betrifft etwa mal Säuglinge, mal fast 14-jährige Kinder. Außerdem muss gefragt werden: Wie viele Kinder wurden missbraucht? Wie oft? Gab es vielleicht ein falsch verstandenes Liebesverhältnis zwischen einer 13- und einem 19-Jährigen? Gab es ein Geständnis oder hat das Kind den Missbrauch überhaupt mitbekommen? Immer, wenn ich als Richter eine neue Information bekomme, verändert sich so meine Einschätzung. In Zeitungsartikeln wird oft nur ein Teil dieser Punkte wiedergegeben.

Das heißt, hier sehen Sie auch die berichtenden Medien in der Pflicht.

Ja, es gibt einen Grund, warum Hauptverhandlungen länger als fünf Minuten dauern. Medien verkürzen – und müssen das ja auch. Aber dann kann zum Beispiel ein Aspekt fehlen wie: Hat der Täter sich um eine Wiedergutmachung des Schadens bemüht? Andererseits ist die Berichterstattung natürlich auch wichtig. Es soll ja transportiert werden, dass Verbrechen bestraft werden.

In vielen Fällen fehlt den Menschen wohl die Verhältnismäßigkeit. Im Gegensatz zum eben zitierten Kindesmissbrauch-Beispiel: Ein Drogenhändler wird mit 80 Kilogramm Cannabis zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. Hier beschweren sich Leserinnen und Leser über ein zu hohes Strafmaß. Lassen sich die zwei Fälle aus Ihrer Sicht miteinander vergleichen?

Das ist eine interessante Frage, weil sie sich einem Praktiker gar nicht stellt. Das sind zu unterschiedliche Lebensbereiche. Es ist eine politische Entscheidung, Marihuana unter Strafe zu stellen. Und dann geht die Rechnung eben so: 80 Kilogramm Cannabis könnten etwa 8 Kilo THC sein. Das ist ungefähr das 1000-fache von dem, was der Gesetzgeber als Verbrechen einstuft. Davon können auch dementsprechend viele Menschen versorgt werden. In meinem Berufsleben habe ich deutlich mehr als einen Fall gesehen, bei dem Menschen wegen Marihuana in Psychosen geraten und zu Tode gekommen sind.

Trotzdem halten einige Leserinnen und Leser die Strafen in einem Fall für zu hoch und im anderen Fall für zu niedrig. Geht Ihnen das manchmal auch so?

Dass Intellekt und Emotionen auseinanderfallen können, erlebt man auch als Richter. Es gibt Taten, die sind scheußlich. Es ist menschlich, dagegen mit aller Härte vorgehen zu wollen. Von uns Richtern wird aber erwartet, dass wir nicht emotionsgesteuert, sondern nach kühlem Abwägen entscheiden. Oft vergleicht man einen derzeitigen Fall mit anderen Fällen, die man schon erlebt hat, und orientiert sich daran. Den meisten Leuten, die emotional auf so ein Urteil reagieren, könnte ich erklären, wie es zu der Entscheidung im Einzelfall gekommen ist. Es kommt aufs Ganze an.

Herausgegriffen wird meist die strafmindernde, psychische Verfassung, etwa eines Mörders. Immer wieder heißt es von Kommentatorinnen und Kommentatoren, das sei eine faule Ausrede. Wie sehen Sie das?

Bei schwereren Delikten beurteilt ein Sachverständiger, also ein Psychiater den Täter. Die ersten Fragen sind dann: Hat derjenige erkannt, dass es verboten ist, was er gemacht hat? Und: War er in der Lage, sein Verhalten danach auszurichten? Nicht jede Beeinträchtigung führt zu einer Schuldminderung. Sie muss schon stark sein. Aber auch hier gibt es wieder viele Wechselwirkungen, die ein Urteil schwierig machen.

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