Team-Manager Gerry van Gerwen (rechts), hier mit Team-Kapitän Linus Gerdemann, will seine Sponsorensuche nicht aufgeben. Foto: dpa

Die Nordmilch AG dreht Geldhahn zu, viele Fahrer begehen Fahnenflucht.

Saint-Jean-de-Maurienne - Die Nordmilch AG dreht den Geldhahn zu, die Fahrer begehen Fahnenflucht - doch Gerry van Gerwen glaubt noch immer an das Überleben seines Milram-Teams. „Die Mannschaft ist noch nicht tot, sicher nicht“, sagte der Niederländer am Dienstag. Rund 20 Stunden nachdem der Teamchef mit leeren Händen vom Bittgang nach Bremen zurückgekehrt war, musste er einräumen, dass Nordmilch seinen Radrennstall im kommenden Jahr definitiv nicht mehr finanziell unterstützen wird. „Sie haben wiederholt: 'Wir machen kein weiteres Sponsoring'“, berichtete van Gerwen.

Van Gerwen hat noch Trümpfe im Ärmel

Der Bremer Milchkonzern, der jährlich rund acht Millionen Euro in das Team gepumpt hat, werde ihm aber weiter zur Seite stehen, ließ der Holländer wissen. „Unter anderem mit ihren Kontakten.“ Nach Informationen der „Süddeutschen Zeitung“ hat van Gerwen noch einige Trümpfe im Ärmel. Als heißester Interessent gilt ein europäischer Radhersteller, schon für diesen Donnerstag sei ein Verhandlungstermin angesetzt, berichtete die Zeitung. Am Dienstagmorgen hatte van Gerwen noch gesagt, dass er in den Unterredungen mit anderen Interessenten bislang nicht über „Ansatzpunkte“ hinausgekommen sei: „Heute und jetzt habe ich keinen Vertrag vorliegen - auch keine Tendenz dahin.“ Nur wenige Stunden später wollte er diese Worte nicht als Anzeichen für ein baldiges Ende seines vor fünf Jahren gegründeten ProTour-Teams verstanden wissen. „Mit fünf Millionen“ Euro pro Saison könne die Dortmunder Equipe „in der ersten Kategorie bleiben“, so van Gerwen in der „SZ“.

Ohne Sponor: Deutschland verschwindet von der Radsport-Bühne

Sollte van Gerwens verworrene Sponsorensuche erfolglos bleiben, würde Deutschland 13 Jahre nach dem Jan-Ullrich-Boom von der großen Radsport-Bühne verschwinden. „Der Niedergang des deutschen Radsports hat sich mit dem Ausstieg von T-Mobile und danach Gerolsteiner fortgesetzt. Das Milram-Aus ist jetzt der Tiefpunkt“, sagte der frühere Gerolsteiner-Teamchef Hans-Michael Holczer der dpa. Der Schwabe hatte selbst vor zwei Jahren seinen Rennstall nach erfolgloser Geldgebersuche - nicht zuletzt aufgrund anhaltender Doping-Schlagzeilen - schließen müssen. Nun droht van Gerwen das gleiche Schicksal. Und die Fahnenflucht seiner Fahrer, die unmittelbar vor dem Start der 9. Etappe der 97. Tour de France nach Saint-Jean-de-Maurienne die Hiobsbotschaft erhielten, muss der Teamchef hilflos verfolgen. „Wir befinden uns jetzt auf Bewerbungsfahrt“, sagte Johannes Fröhlinger, bevor er am Dienstag den Worten umgehend Taten folgen ließ und früh mit einer Fluchtgruppe ausriss, aber im Finale einbrach.

Fahrer orientieren sich bereits jetzt neu

Einen Tag zuvor hatte bereits Kapitän Linus Gerdemann erklärt, dass während der Tour Gespräche mit anderen Teams laufen. So wird der Wahl-Schweizer mit einem neuen Top-Team aus Luxemburg in Verbindung gebracht, Topsprinter Gerald Ciolek bezeichnete den alten Arbeitgeber HTC-Columbia als „interessante Alternative“. „Es ist es normal, dass man sich neu orientiert“, sagte der Pulheimer. „Es ist traurig, wenn das kaputtgeht“, kommentierte van Gerwen den beginnenden Zerfall. Ein Ende des Milram-Teams würde den deutschen Profi-Radsport in die Zweitklassigkeit stürzen. Im kommenden Jahr könnte nur noch Newcomer NetApp mit einer ProContinental-Lizenz die deutschen Farben vertreten. „Wir fallen zurück wie damals zu meiner Anfangszeit“, meinte Milrams Sportlicher Leiter Christian Henn, der 1988 seine Profi-Karriere begonnen hatte. „Gerade für den Nachwuchs ist das besonders schlimm“, pflichtete Milram-Fahrer Christian Knees bei. Am Montagabend war van Gerwen extra von der Tour nach Bremen gereist, um nochmals über das jährlich auf rund acht Millionen geschätzte Engagement und „vor allem über Kommunikation“ zu sprechen. Auf die Frage, ob er den Milchkonzern abhaken könne, sagte der 57-Jährige: „Das stimmt.“

Trotz der neuerlichen Abfuhr will van Gerwen aber noch nicht aufgeben. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich 2011 keine Mannschaft habe“, wiederholte er trotzig. Dies sage ihm sein „Bauchgefühl“ - und „außerdem habe ich noch nie in meinem Leben verloren“. Den Mut der Verzweiflung schöpft er aus telefonischen Anfragen, die er noch immer erhalte. Doch „konkret ist nichts“. Sein ehemaliger Kollege Holczer kann nachempfinden, wie sich van Gerwen fühlen muss. 2008 war der studierte Mathematiklehrer von Pontius bis Pilatus gerannt, um sein sportliches Lebenswerk zu retten. Dass van Gerwen gelingt, was ihm versagt blieb, glaubt der einstige Gerolsteiner-Teamchef nicht. „Im Moment überwiegt weiter die Angst vor möglichen Zwischenfällen - sprich: Doping. Diese Angst würgt alles ab.“ Gleichwohl sei er gespannt, „wann in Deutschland die enormen Möglichkeiten wiederentdeckt werden, die dieser Sport im Marketing bietet“. Er selbst liebäugelt jedenfalls wieder mit einer Rückkehr in den als Problembranche verschrienen Radsport: „Eine Agentur hört sich für mich um.“