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Lösen manche Lebensmittel Migräne aus? Berichte von Patienten widersprechen Studien.

Stuttgart - Eigentlich mag Gerda Sindlinger Schokolade. Doch seit sie beobachtet hat, dass die Süßigkeit bei ihr Migräneattacken auslösen kann, verzichtet sie lieber darauf. "Manchmal haben schon zwei, drei Stücke gereicht. Kaum waren ein paar Minuten vergangen, da habe ich gespürt: Jetzt geht es wieder los", berichtet die Gastronomin. "Das merke ich am Augenflimmern. Ich sehe dann lauter Blitze und Zacken." Wenig später setzen bei ihr pochende Kopfschmerzen ein. Schlimmstenfalls kommt die 50-Jährige zwei Tage lang nicht aus dem Bett, muss sich ständig übergeben und erträgt weder Licht noch Geräusche.

Viele Kopfschmerzpatienten berichten, dass sie nach dem Genuss von Rotwein, Schokolade, Käse, Nüssen und Fischkonserven unter Migräne leiden. "Je nach Studie geben 10 bis 50 Prozent der Patienten an, dass bestimmte Nahrungsmittel bei ihnen Migräneattacken auslösen können", sagt Tim Jürgens, Neurologe an der Kopfschmerzambulanz des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. "Ich aber glaube, dass die Bedeutung von Nahrungsmitteln überschätzt wird." Denn die Erfahrungsberichte der Patienten hätten bisher kaum durch solide wissenschaftliche Studien bestätigt werden können. "Viele Patienten haben das Bedürfnis, einen Grund für ihre Migräneattacken zu finden. Da bieten sich Nahrungsmittel an", erklärt Jürgens: "Es gibt aber sicher eine kleine Gruppe von Patienten, die tatsächlich nach bestimmten Nahrungsmitteln gehäuft Migräneattacken bekommt."

Die kopfschmerzauslösende Wirkung von Schokolade versuchten Wissenschaftler gleich in mehreren Studien zu bestätigen - doch die Ergebnisse waren höchst widersprüchlich. Eine Rolle spielt offenbar auch, dass manche Patienten in der Anfangsphase der Migräne Heißhunger auf Süßes verspüren. Es könnte also sein, dass das Schokoladenaschen nicht Auslöser, sondern erstes Symptom einer nahenden Attacke ist, so vermuten Wissenschaftler.

Gerda Sindlinger überzeugt das nicht. Jahrelang hat sie beobachtet, zum Teil auch notiert, was ihre Migräneanfälle ausgelöst hat. "Das waren Stress, Verspannungen, Föhnwetter und ganz bestimmte Nahrungsmittel." Neben Schokolade hat sie schon schlechte Erfahrungen mit Gelbwurst, Fischkonserven, Käse und anderen Kuhmilchprodukten gemacht. "Rotwein trinke ich gleich gar nicht", sagt sie.

Da tut sie wahrscheinlich gut daran. "Ein Drittel der Patienten reagiert empfindlich auf Rotwein", berichtet Ronald Brand, Chefarzt der Migräneklinik Königstein. "Er enthält verschiedene Stoffe, die Migräne mit auslösen können." Im Verdacht stehen vor allem biogene Amine: Das sind Abspaltungen von kleinsten Eiweißbausteinen, auf die manche Menschen empfindlich reagieren. Vor allem die Amine Tyramin und Histamin, beide in Rotwein enthalten, können offenbar bei besonders sensiblen Personen Beschwerden wie Kopfschmerzen auslösen. Hinzu kommt, dass Alkohol generell die Freisetzung von Histamin im Blut fördert.

Auch reifer Käse, Schokolade, geräuchertes Fleisch, Makrelen, Tunfisch und Fischkonserven enthalten biogene Amine. Das könnte der Grund sein, warum sie manchmal Kopfweh machen. Daneben gelten auch Konservierungsstoffe in Fertiggerichten, wie etwa Nitrate, sowie der Geschmacksverstärker Glutamat als Migräne-"Trigger". Grundsätzlich aber gilt: "Nahrungsmittel sind nicht der eigentliche Auslöser von Migräne. Sie können eine Attacke allerdings mit anschieben", sagt Brand. "Es kann zum Beispiel sein, dass ein Patient gerade eine stressige Phase erlebt. Dann trinkt er ein Glas Rotwein - und bekommt Migräne."

Welche Faktoren Migräneattacken auslösen und wie diese verlaufen, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. "Man sollte daher zwei bis drei Monate lang in einem Tagebuch notieren, wann und wie heftig die Attacken auftreten und welche Faktoren als Auslöser infrage kommen", rät Peter Kropp, Sprecher der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft. So kann der Patient herausfinden, worauf er reagiert - oft sind es Hormonschwankungen, ein Wechsel zwischen Ruhe und Stress oder Änderungen im Schlaf-Wach-Rhythmus. Auch Faktoren wie Unterzuckerung, Flüssigkeitsmangel und Koffeinentzug kommen dafür infrage.

Haben Patienten Rotwein oder Käse als persönlichen "Trigger" ausgemacht, so wurde ihnen bisher empfohlen, auf diese Lebensmittel zu verzichten. "Man hat inzwischen aber die Erfahrung gemacht, dass die Bandbreite an Lebensmitteln, die auf dem Index landen, dann immer größer wird", sagt Kropp, "das ist wie bei einer Angsterkrankung: Zuerst meiden Sie enge Räume, dann kommen Rolltreppen hinzu, dann Busse, dann Züge." Wie bei Phobien setzten neue Therapien auf eine Art Desensibilisierung: Statt das verdächtige Lebensmittel völlig zu meiden, soll der Patient herausfinden, bis zu welcher Grenze er es problemlos konsumieren kann. "Wenn jemand auf Rotwein reagiert, würde ich ihm empfehlen, es mal mit einer homöopathischen Dosis zu versuchen, also zwei, drei Tropfen mit Wasser zu trinken." Wenn der Körper das verkraftet, könne man die Dosis allmählich steigern. Auch der Hamburger Neurologe Jürgens findet es sinnvoll, so vorzugehen. "Sonst besteht die Gefahr, dass man Lebensmittel unter einen Generalverdacht stellt", betont er, "man sollte aber die Lust am Essen und Genießen nicht verlieren."

Wichtig sei beim Essen auch, dem Instinkt zu folgen, wie Ronald Brand betont: "Bei Menschen, die sich nichts aus Kuhmilchprodukten machen, hat man tatsächlich schon oft eine Milchzucker-Unverträglichkeit festgestellt." Migränepatienten liegen also richtig, wenn sie auf ihre innere Stimme hören. Das bestätigt Gerda Sindlinger: "Nüsse, Camembert, Heringe aus der Dose?" Sie verzieht das Gesicht. "Ich hab' gar keine Lust auf dieses eklige Zeug."