Schonungslose Offenheit: Taylor Swift spricht in ihren neuen Songs über ihre inneren Dämonen. Foto: Universal/Republic Records

Es ist ihr ganz persönliches Nokturn, ihre kleine Nachtmusik: Auf „Midnights“ kehrt Taylor Swift nach Folk-Ausflügen zur Popmusik zurück. Gewandelt klingt sie dennoch.

Es sind die dunklen Stunden des Tages, die einsam durchwachten Nächte, in denen wir uns immer am verletzlichsten fühlen. Die Monster unterm Bett werden plötzlich wieder real, unsere Sorgen, Nöte und Ängste rücken näher. Mit der Morgendämmerung zerstreuen sich diese Schimären wie Nebel bei Sonnenaufgang. Doch das beklommene Gefühl bleibt: Die nächste Mitternacht kommt bestimmt.

Sie ringt mit Ruhm und Erfolg

Auch eine Taylor Swift hat schlaflose Nächte. Wälzt sich von links nach rechts, fragt sich, ob sie genügt, ob sie das richtige tut, ob sie gut für sich und ihr Umfeld ist. Vor so etwas schützen auch keine 200 Millionen verkauften Platten, keine elf Grammys.

Genau das macht „Midnights“ so besonders, so stark: Spätestens seit der Dokumentation „Miss Americana“ begegnet uns eine unsichere Künstlerin, die mit Ruhm und Erfolg ringt, die sich gegen den Willen aller politisch positioniert, offen über ihre Essstörung und ihre Dämonen spricht. Dreizehn von ihnen hat sie jetzt eingefangen und auf ihr neues Album „Midnights“ gesperrt. Es ist ein Spaziergang über ihr ganz eigenes Minenfeld, begleitet von allen Teufeln ihrer Psyche – ehrlicher war ein Popstar nie.

Ihr Inneres liegt auf dem Seziertisch

Es ist eben nicht einfach nur eine neue Platte von Taylor Swift. Es ist eine Bestandsaufnahme ihres Innenlebens, mit ihr auf dem Seziertisch, Körper und Gehirn offengelegt. Sie hat die Waldeinsamkeit ihrer letzten beiden Folk-Preziosen „Folklore“ und „Evermore“ hinter sich zurückgelassen, hat das Karohemd und den geflochtenen Zopf diesmal gegen glamouröse Fummel aus den Siebzigern getauscht. Und klingt dennoch so ganz anders als auf dem pink glitzernden Bubblegum-Synthpop-Spektakel „Lover“, mit dem sie 2019 auftrumpfte.

„Midnights“ ist ein Popalbum, das ja. Es ist aber viel mehr als das. Tiefer, echter, profunder, leiser. Ein Nokturn aus irisierendem Synthpop, aus flirrenden Beats, Synthesizer-Spielereien und ihrer grandiosen, katzenartigen Stimme. Die ist so nah am Hörer, dass der Eindruck entsteht, sie singe ihre schlaflosen Lieder direkt ins Ohr ihrer Fans. „Midnights“ funktioniert deswegen auch sehr wahrscheinlich am besten nach Anbruch der Dunkelheit: Es ist ein Album, das von den Tönen zwischen den Zeilen lebt. Wie ein Nachtwald, der vom gespenstischen Ruf eines Kauzes durchdrungen wird.

Handgefertigte Wunderwerke

Die Songs sind hervorragend arrangiert, allesamt handgefertigte Wunderwerke. Übergroße Stadionhits – das sieht Taylor Swift an diesem Punkt ihrer Karriere nicht mehr ein. Sie hat in den vergangenen Jahren nicht umsonst gegen die frustrierenden Mechanismen der Musikindustrie gekämpft, hat ihre alten Platten „Fearless“ und „Red“ nicht ohne Grund noch mal komplett neu aufgenommen. Ein Schritt, der nötig für sie war, weil sie die Rechte an den Originalaufnahmen nicht mehr hatte. Ein Präzedenzfall in einer Industrie, deren Umgang mit Rechten bizarr und alles andere als künstlerfreundlich ist.

Taylor Swift weiß, dass alle ganz genau hinschauen, wenn sie etwas veröffentlicht. Und nutzt das für ihr persönlichstes Album. So lapidar das auch klingt: Taylor Swift packt aus. Sie singt an gegen geschlechterstereotype Menschen, die sich die Fünfziger zurückwünschen („Lavender Haze“), sie gibt ihrem Selbsthass ein zynisches Gesicht („Anti-Hero“), sie bleibt gern kryptisch. Sie schreibt aber immer noch die besten, magischsten Liebeslieder („Maroon“) und wetzt wunderbar die Klingen, wenn sie in „Vigilante Shit“ zu Billie-Eilish-Beats singt: „I don’t dress for women, I don’t dress for men, lately I’ve been dressin’ for revenge.“

Die Folkphase ist vorbei

Ausgerechnet „Snow on the Beach“, die mit Spannung erwartete Kollaboration mit Lana del Rey, lässt etwas enttäuscht und ratlos zurück: Die beiden Stimmen umgarnen sich und verschmelzen so sehr, dass man gar nicht unbedingt merkt, wer da jetzt gerade haucht oder singt. Könnte aber auch Kalkül sein: Ganz allgemein ist Taylor Swift auf „Midnights“ in Sachen Aura und Attitüde näher am „Sad Pop“ von Lana del Rey als an ihren frühen Pop-Knallbonbons.

Bisher Swifts stärkstes Songwriting

Ihre kleine Nachtmusik ist der Soundtrack zu dreizehn schlaflosen Nächten, die sie verändert haben. „Midnights“ ist ein Konzeptalbum nach Sonnenuntergang, ein Nokturn, auf dem sie sie ihre ganz eigene Psychoanalyse durchführt, eine Traumdeutung voller ahnungsvoller Popmusik, angesiedelt in den betörenden Grenzlanden kurz vor dem Einschlafen. Vor allem aber ist ein das Album, das Swifts bisher stärkstes Songwriting bietet.

Die nostalgische Folkphase mag vorbei sein. Ohne ihren Ausflug in Americana-Mythen wäre „Midnights“ aber nicht möglich gewesen. Es könnte ein Game-Changer nicht nur für die weibliche Popmusik sein, ein virtuoses, subtiles Kammerspiel aus Albträumen, grausamen Gedanken, unerfüllten Träumen.

Taylor Swift: Midnights. Republic/Universal