Jirip gibt vom oberen Regal aus acht, dass Thomas Michel gesund bleibt. Foto: Eveline Blohmer

Der Ethnologe Thomas Michel schenkt in seinem Besen auf dem Haigst prämierte Weine aus. Von den hiesigen Wengertern akzeptiert zu werden, war nicht leicht. Aber der 68-Jährige hat es geschafft. Immerhin lebte er schon unter Kannibalen.

Haigst - Was drängen sich nicht alles für Scherze auf bei einem Besenwirt, der unter Kannibalen gelebt und Menschenfleisch gekostet hat?! Und den Inhaber von Michel’s Gauder-Besen auf dem Haigst würde ein Kannibalen-Witz sicher nicht zum Kochen bringen, ist er doch auch nicht darum verlegen. Doch die Autorin dieser Zeilen bisse sich selbst in den Allerwertesten, würde sie ihn am Ende um eines Schenkelklopfer willen auf diesen Aspekt seiner Laufbahn reduzieren. Denn das, was Thomas Michel aus seinem Leben erzählt, ist so gehaltvoll, dass es für drei reichen könnte.

2001 kam der Ethnologe nach Stuttgart, um Direktor des Linden-Museums zu werden. Zehn Jahre lang hatte er das Niedersächsische Landesmuseum Hannover geleitet, aber nachdem die Weltausstellung 2000 vorbei war, sei die Luft draußen gewesen. Da er eine Schwäbisch Gmünderin zur Frau hat, bewarb er sich auf den Posten.

Flaschen weisen den Weg

Vielleicht war es ein Omen, dass er beim Vorstellungsgespräch erst einmal Flaschen wegräumen musste, die, wie sich herausstellen sollte, auf dem Bewerbertisch aufgestellt worden waren, um das Selbstbewusstsein der Bewerber zu testen. Michel versteckte sich nicht hinter den Flaschen und wurde genommen. Der Weg in Richtung Weinberg war beschritten.

Der Blick von seinem Büro im Linden-Museum ging in Richtung Kriegsberg, auf dem die Industrie- und Handelskammer Wein anbaut. „Ich war so leichtsinnig, zu meiner Sekretärin zu sagen: ,Wenn Sie mal so einen kleinen Weinberg zum Kaufen sehen, her damit‘“, erzählt Michel. Eines Tages kam sie mit einem entsprechenden Zettel – und wenig später griffen Michels damals noch unkundige Hände nach den Reben am Scharrenberg: „Die Buddhisten sagen ja, es gibt keinen Zufall“, meint Michel.

Von Nullkenntnis zu Medaillen

So war es denn wohl Schicksal, dass eines Tages, als Michel mit seiner, wie er sagt, „Nullkenntnis“ nach dem Dienst im Weinberg zugange war, ein alter Mann dasaß. Eberhard Gauder wurde Michels Lehrmeister. „2006 hat er mich gefragt, ob ich mir vorstellen kann, mich zu vergrößern“, erzählt der Eleve von einst. Michel kaufte Gauders Weinberg ab, verpachtete ihn aber zunächst. Zwei Jahre später sagte Gauder zu Thomas Michel, er hätte ein Haus auf dem Haigst, in dem mal ein Besen war. Das würde er verkaufen. „Ich bin gleich zur Bank und habe gefragt, ob der Haigst eine gute Gegend sei. Der Berater meinte: sofort kaufen“, sagt Michel, der bis dato im Stuttgarter Westen wohnte.

Nun ist es das eine, sich irgendwo niederzulassen, und das andere, dort auch aufgenommen zu werden: „Es war ganz schwer“, sagt Michel. Als er bei den Degerlocher Wengertern vorstellig wurde, hatte der in Dessau Geborene und in Darmstadt Aufgewachsene das Gefühl, „die wollten nicht so recht, dass ein Hesse da einen Weinberg hat“. Und dann habe er „einen Riesenfehler“ gemacht, nämlich sehr schnell Auszeichnungen für seinen Wein zu bekommen: „Das Freundlichste, was ich zu hören bekam, war noch: ,Ha ja, so ein Professor Doktor weiß scho’, wie man Medaillen kriegt.‘“ Inzwischen sei er aber akzeptiert und habe auch freundschaftliche Verhältnisse zu den anderen Wengertern.

Bei Kannibalen auf den Besen vorbereitet

Vielleicht haben dem knapp 69-Jährigen, der sich als Rucksackdeutschen bezeichnet, seine Anpassungsfähigkeit und seine berufsbedingte Fähigkeit zur teilnehmenden Beobachtung geholfen. „Wer Kannibalen überlebt, überlebt auch den Besen“, sagt Michel, der vor wenigen Monaten erst wieder in Neuguinea war.

Zum ersten Mal war Michel als Reisender dort, als er nach seinem VWL-Studium bei einem Börsenmakler in Melbourne arbeitete. 1971 kehrte er nach Deutschland zurück und studierte Völkerkunde. Ein Forschungsprojekt brachte ihn erneut nach Neuguinea: Ein Jahr verbrachte er unter Kannibalen – und reiste danach immer wieder hin, um die letzten unbekannten Bevölkerungsgruppen auf der Insel zu erforschen und zu filmen. Ja, Menschenfleisch habe er auch probiert. „Sie essen ihre Feinde, wenn sie sie erwischen“, erklärt Michel. Dass er selbst das Fleisch eines Artgenossen – das übrigens wie Schweinefleisch schmeckt – gegessen hat, war Teil der Anpassung: „Wenn ich abgelehnt hätte, hätte ich keine Informationen mehr bekommen.“

Totenschädel schützt

In Michel’s Gauder-Besen weist auf den ersten Blick nichts auf diesen Teil des Lebens von Thomas Michel hin. Und er selbst bindet ihn seinen Gästen nicht auf die Nase: „Ich habe die Philosophie, dass ein Wirt sich um die Gäste kümmert. Wenn sie etwas wissen wollen, erzähle ich. Ansonsten ist es wichtig, zuzuhören“, sagt er.

Wer aber von seinen Maultaschen oder dem Handkäs aufschaut, den Blick vom Schloss-Neuschwanstein-Gemälde abwendet und durch die holzbedingte Gemütlichkeit schweifen lässt, entdeckt ihn dann doch, den Hinweis: Der Totenschädel auf dem Regalbrett gehörte zu Lebzeiten Jirip, „ein netter alter Mann, der mit 72 auf natürlichem Wege gestorben ist“, sagt Michel. Er hat ihn bekommen, damit er auf ihn aufpasst. „Er macht einen super Job, ich war noch keinen Tag krank.“ Allerdings hat Jirips Schädel Thomas Michel am Zoll schon einige Scherereien eingebracht. Eine Geschichte, die sich Besengäste unbedingt erzählen lassen sollten.

Michel’s Gauder-Besen

Bis zum 13. Dezember hat der Besen an der Meistersingerstraße 23 mittwochs, donnerstags und freitags von 16 bis 23 Uhr, samstags von 15 bis 23 Uhr und sonntags von 11 bis 23 Uhr geöffnet.