Der Vorsitzende der Südwest-Liberalen beschwört die Freiheitsrechte in Corona-Zeiten – und er würdigt das historische Gründungsdatum der Demokratischen Volkspartei, eine Vorgängerpartei der FDP, vor 75 Jahren in Stuttgart.
Stuttgart - Der baden-württembergische Landesvorsitzende der FDP/DVP, Michael Theurer, beschreibt die Herausforderungen der Liberalen 75 Jahre nach Gründung der Demokratischen Volkspartei in Stuttgart. Er fordert ein „Signal des Aufbruchs“ von seiner Partei.
Herr Theurer, am 17. September 1945 hatte die US-Besatzungsmacht im Südwesten die Gründung lokaler Parteien zugelassen, am Tag darauf ist in der Wohnung des Stuttgarter Liberalen Wolfgang Haußmann – ein Enkel des 48er Revolutionärs Julius Haußmann – die Demokratische Volkspartei (DVP) neu gegründet worden, später eine wichtige Partnerin der FDP. Was bedeutet Ihnen das Datum nach 75 Jahren?
Dass die Demokratische Volkspartei sich zum ersten rechtlich möglichen Zeitpunkt in Stuttgart neu gegründet hat, das zeigt wie stark die Verwurzelung der Liberalen hier im Südwesten ist. Wir als FDP/DVP tragen dieses historische Erbe auch heute noch mit Stolz in unserem Namen. Baden-Württemberg ist das Stammland der Liberalen. Wolfgang Haußmann, in dessen Wohnung man sich damals traf, hat mir einmal das Zimmer gezeigt, in dem Reinhold Maier, er und andere Liberale die DVP gegründet haben. Für uns ist das historische Erbe eine Ermutigung und Verpflichtung.
Inwiefern?
Wir brauchen heute mehr Theodor Heuss und mehr Wolfgang Haußmann. Heuss steht als Pädagoge der Demokratie für eine klare verständliche Sprache, aber auch für Kultur und das Bekenntnis zur Menschenwürde. Haußmann hat – auch gegen Widerstände des damaligen Ministerpräsidenten Kurt-Georg Kiesinger – die juristische Aufklärung der Naziverbrechen in ganz Deutschland vorangetrieben. Die Durchsetzung der rechtsstaatlichen Ordnung gegen jegliche Form von Extremismus – das ist auch ein Thema, dem sich die FDP heute bundesweit noch stärker verpflichten muss.
Die DVP hatte damals rasch Erfolg, erzielte bei der ersten Landtagswahl in Württemberg-Baden fast 20 Prozent, stellte den ersten Ministerpräsidenten und den ersten Bundespräsidenten. Was ist von diesem Glanz heute noch übrig?
Eine starke Südwest-FDP ist der Garant der Existenz der FDP auf Bundesebene. Wir hatten nach dem Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag 2013 an ihrer Neupositionierung einen sehr großen Anteil. Mit 8,3 Prozent bei der letzten Landtagswahl waren wir der Motor für die Länderwende der Liberalen. Wir erzielten mit 12,7 Prozent bei der Bundestagswahl das zweitbeste Ergebnis aller Landesverbände und bei der Europawahl mit 6,8 Prozent sogar das beste. Entscheidend ist unsere klare Orientierung an der sozialen Marktwirtschaft und an den Bürgerrechten. Daran orientiert sich unser gesamtes Programm. Klimaschutz wollen wir zum Beispiel durch Innovation und marktwirtschaftliche Prinzipien erreichen.
Man sollte nicht von der Mentalität einer Bevölkerung sprechen, dennoch die Frage: Passt der Liberalismus zu den Leuten hier im Land?
Auf jeden Fall. Das liberale Wesen der Baden-Württemberger spiegelt sich im Fleiß, der im Spruch „Schaffe, schaffe Häusle, baue“ verewigt ist. Es zeigt sich auch in der Kreativität und dem Tüftlerdenken der Menschen hierzulande, ihrem Unternehmer- und Erfindergeist, all das gehört zur DNA des Landes, gepaart mit Weltoffenheit, Fortschrittsoptimismus und Eigenverantwortung.
Wer ist ihr Lieblingspolitiker in der Ahnengalerie der prominenten Liberalen aus dem Südwesten?
Theodor Heuss, der Pädagoge der Demokratie, das hängt auch mit meiner journalistischen Vergangenheit zusammen. Auch Ralf Dahrendorf, der Bildung als Bürgerrecht propagierte und in Baden-Württemberg gewirkt hat, obwohl er aus Hamburg stammte.
Es gibt in der Geschichte Ihrer Partei neben Reinhold Maier nur einen zweiten Ministerpräsidenten der FDP: Thomas Kemmerich, für 29 Tage mit den Stimmen der AfD gewählter Regierungschef von Thüringen. Ist der Kemmerich-Fall schuld am schlechten Abschneiden der FDP in den Umfragen, die im Bund nahe an der 5-Prozent-Marke hängen, aber auch in Baden-Württemberg nur wenig besser sind?
Die FDP steht aktuell in Baden-Württemberg bei sieben Prozent. Mit Rückenwind aus dem Bund werden wir sicher noch zulegen. Dafür ist es wichtig, dass die Bundespartei mit Christian Lindner an der Spitze das Thüringen-Trauma abräumt. Thomas Kemmerich sollte dort nicht noch einmal Spitzenkandidat werden.
War die Absage an Jamaika 2017 ein Fehler? Die FDP hatte damals 10,7 Prozent im Bund, jetzt hat sie das Ergebnis halbiert.
Es herrschte damals große Einigkeit in der Partei, dass der Schritt richtig ist. Die CDU kam inhaltlich nur den Grünen entgegen. Die Union wollten damals nicht einmal die komplette Abschaffung des Soli mittragen. Jetzt sind sie angeblich dafür.
Schon unter Guido Westerwelle hatte die FDP einen Hang zur One-Man-Show, gehe ich Recht in der Annahme, dass sich dieser Fehler jetzt unter Christian Lindner wiederholt?
Das Etikett war schon damals falsch. Guido Westerwelle hat es vermocht, aus so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dirk Niebel, Daniel Bahr und Rainer Brüderle ein schlagkräftiges Team zu formen. Resultat war das beste Ergebnis der FDP-Geschichte. Das traue ich Christian Lindner auch zu.
Die FDP gilt als Männerpartei, mit einer Kommission wollte der FDP-Vorstand Ideen für eine Hebung der Frauenbeteiligung (22 Prozent der Mitglieder) sammeln, aber jetzt sind gleich drei prominente liberale Frauen von der Bühne gegangen: Generalsekretärin Linda Teuteberg, die Hamburger Landeschefin Katja Suding und die Juli-Chefin Ria Schröder. Laufen Christian Lindner die Frauen weg?
Ich glaube nicht, dass Christian Lindner ein Frauenproblem hat. Mit Bettina Stark-Watzinger kandidiert eine unserer parlamentarischen Geschäftsführerinnen für das Bundespräsidium, mit Lydia Hüskens eine weitere in Sachsen-Anhalt profilierte Frau. In Rheinland-Pfalz folgt Daniela Schmidt auf Volker Wissing als Spitzenkandidatin. In Baden-Württemberg organisiert unsere Generalsekretärin Judith Skudelny den Wahlkampf. Außerdem bin ich mir sicher: Wir werden Linda Teuteberg und Ria Schröder noch in herausgehobener Position sehen. Auf ihre Power kann und wird die FDP auf Dauer nicht verzichten.
Liberale Positionen haben in den letzten Jahren die meisten Parteien übernommen, fällt der FDP da die Profilierung schwer?
Corona hat gezeigt, wie wichtig eine Garantie der Freiheitsrechte ist, gleichzeitig erleben wir wieder einen Zeitgeist des Etatismus. Viele Menschen rufen nach dem Staat. Das zeigt, dass Liberalismus kein Selbstläufer ist. Die CDU ist unter Merkel sozialdemokratisch geworden, vertritt in der Wirtschaftspolitik weder die Marktwirtschaft noch das Privateigentum. Die SPD ist nach links gerückt und die Grünen sind in weiten Teilen eine Verbotspartei. Umso wichtiger ist die Rolle der FDP.
Rechtspopulisten und seltsame Verschwörungstheoretiker schreiben sich jetzt die Freiheitsrechte auf die Fahnen. Ist das ein Problem für die Liberalen?
Die Kritik an massiven Staatsinterventionen gehört in der Demokratie dazu. Deshalb ist es verkehrt, wenn jeder Protest der Bürger unter extremistischen Generalverdacht gestellt wird. Die FDP muss in jedem Fall hörbar und sichtbar als Verteidigerin der Freiheit und Bürgerrechte wahrnehmbar sein, wir müssen das mit Empathie und Herzenswärme vertreten. Gleichzeitig machen wir deutlich, dass so etwas wie der Sturm auf das Reichstagsgebäude nicht sein kann. Wenn extremistische Kräfte bei einer Demonstration die Oberhoheit gewinnen, muss das auch dem letzten Teilnehmer die Augen öffnen. So etwas lehnen wir entschieden ab.
Klimaschutz und Digitalisierung brauchen eine Regulierung, auch die Rückkehr nationaler Egoismen belegt, dass es staatsferne Konzepte gerade schwer haben. Was tun dagegen?
Auch die FDP will den starken Staat. Stark ist er aber nur, wenn er sich auf seine Kernaufgaben konzentriert. In der Corona-Krise sind die Versäumnisse des Staates schonungslos ans Tageslicht gekommen, etwa beim digitalen Lernen, bei der digitalen Infrastruktur und Verwaltung. Das sind Bereiche, wo Deutschland im Vergleich zu europäischen Nachbarländern weit hinter herhinkt. Versäumnisse müssen kraftvoll angepackt werden. Auch sind die von der Großen Koalition geplanten fast unbegrenzten Staatshilfen auf Dauer nicht durchzuhalten. Vor dem Verteilen kommt das Erwirtschaften. Wir lehnen jegliche Form des Corona-Sozialismus ab und warnen vor einer Verstaatlichungsorgie. Nur durch eine wirtschaftliche Erholung, Innovation und eine Rückbesinnung auf die Wirkkräfte der Sozialen Marktwirtschaft lassen sich der Klimaschutz und der Erhalt von Arbeitsplätzen gleichzeitig sichern.
Was wird spannend beim Bundesparteitag in Berlin?
Beim Bundesparteitag muss ein Signal des Aufbruchs gesendet werden: Wir können es, wir packen es an. Die Wahlauseinandersetzungen des nächsten Jahres werden sich um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Rezession sowie eine grundlegende Modernisierung der Wirtschaft drehen. Wir müssen als Standort attraktiv bleiben, das betrifft insbesondere die Menschen im Südwesten.