Michael Ondaatje erzählt in „Kriegslicht“ von einem 14-jährigen Jungen im England des Jahres 1945. Foto: dpa

Spätestens seit seinem Welterfolg „Der Englische Patient“ gilt der Kanadier Michael Ondaatje als Großautor. Im Stuttgarter Literaturhaus hat er nun „Kriegslicht“ leuchten lassen, einen Roman, der uns England ganz neu zeigt.

Stuttgart - Auf ein Neues! Die Räume des Stuttgarter Literaturhauses sind den Sommer über renoviert und mit neuen Holzböden und modernisierter Technik versehen worden. Zur ersten Veranstaltung im neuen Ambiente konnte die Hausherrin Stefanie Stegmann in einem bis auf den letzten Platz ausverkauften Saal einen prominenten Gast begrüßen: den kanadischen Schriftsteller Michael Ondaatje, der seinen aktuellen, im Hanser Verlag erschienenen und von Anna Leube ins Deutsche übersetzten Roman „Kriegslicht“ mitgebracht hatte. Als einer der Großen der englischsprachigen Literatur gilt Ondaatje spätestens seit seinem (auch verfilmten) Bestseller „Der englische Patient“.

Bei guten Büchern gibt der erste Satz den Ton vor, der im weiteren Verlauf der Erzählung vorherrschen wird. Vorgelesen zuerst auf Englisch vom Autor und dann von Stefan Wancura in der deutschen Übersetzung, lautet er in „Kriegslicht“ so: „Im Jahr 1945 gingen unsere Eltern fort und ließen uns in der Obhut zweier Männer zurück, die möglicherweise Kriminelle waren“. Das Zwielicht, das hier beschworen wird, umgibt die Lebensumstände der Hauptfigur des Romans, prägt aber auch die Zeitepoche, in der er angesiedelt ist. Er spielt nämlich kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in einem England, das noch nicht zurück zur Normalität gefunden, die „Kriegsgespenster“ noch nicht gebannt hat. Die Grenzen zwischen Legalität und Ausnahmezustand sind unscharf, London zeigt noch die Wunden, die der Krieg geschlagen hat.

Agenten der Überschreitung

Zugleich ist dieses Halbdunkel auch charakteristisch für die Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsensein, in der sich der vierzehnjährige Ich-Erzähler Nathaniel befindet. Er erkundet allmählich das Terrain jenseits der eigenen Familie, und wie in den klassischen Initiationsritualen sind es zwielichtige Halbweltfiguren mit Spitznamen wie „Falter“ oder „Boxer“, die hier als Agenten der Überschreitung von dem vertrauten in den „anderen“ Zustand überleiten.

Er beginne einen neuen Roman immer ohne einen festen Plan, gestand der Autor im Gespräch mit dem Münchner Anglistikprofessor Tobias Döring, der das Publikum im Literaturhaus durch den Abend führte. Was dagegen schon zu Beginn feststehe, seien Ort und Zeit der sich entwickelnden Handlung. Döring wies darauf hin, dass „Kriegslicht“ von den bisher sieben Romanen des 1943 in der damaligen britischen Kolonie Ceylon geborenen Schriftstellers der erste sei, der in England spiele und auch bekannte Motive der englischen Literatur verwende. Aber diese Motive, etwa das der Themse, das aus zahlreichen London-Romanen und Gedichten vertraut ist, würden von Ondaatje in ein ganz neues Licht getaucht: Er zeige uns „ein England, wie wir es noch nie gesehen haben“.

In abgedunkelten Häusern

Bei nächtlichen Schiffsfahrten auf den Seitenarmen der Themse, die Nathaniel und seine Schwester zusammen mit dem „Boxer“ genannten Fremden unternehmen, werden illegal Windhunde ins Land eingeschleust, die später an Hunderennen teilnehmen sollen. Nathaniel genießt den „Reiz der Nacht“ und erlebt den „ersten magischen Sommer meines Lebens“. Er ist selbst so ein junger Windhund, der in Begleitung dieser Tiere in verlassenen und noch wie im Krieg abgedunkelten Häusern seine ersten Liebesnächte mit einer geheimnisvollen Agnes verbringt, die in dieser Passage wie eine Verkörperung der von ihren Jagdhunden umgebenen Göttin Diana wirkt.

In Deutschland ist wenig bekannt, dass Michael Ondaatje auch Gedichtbände veröffentlicht hat und nach dem Abschluss eines Romans stets wieder zur Lyrik zurückkehrt. An den gelungensten Stellen, so konnte man bei seiner Lesung im Literaturhaus hören, inspiriert der Klang der Wörter auch seine Prosa. Mit der Andeutung, dass die Handlung im zweiten Teil des Romans eine neue Wendung nehmen werde, wurden die Zuhörer in die Nacht entlassen und zum Kauf des Buchs animiert.