Angriff oder Notwehr? Ein 48-Jähriger ist wegen versuchten Totschlags angeklagt. Er hat eine andere Version der Geschichte. Das Opfer war der Freund seiner Ex-Frau.
Als der Mann mit den grauen Schläfen und dem grau melierten Vollbart zur Anklagebank geführt wird, lächelt er sanft in Richtung seiner Familie, die ihn beim Prozessauftakt begleitet. Er macht einen fast sanften Eindruck, und als er am Stuttgarter Landgericht von seinem Leben erzählt – wo er sich wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung verantworten muss. Dabei stellt sich heraus, dass ihm dieses wohl einige Steine in den Weg gelegt hat. So erlitt er schon als etwa achtjähriges Kind in der Türkei eine schwere Kopfverletzung, als er von einer Eisenstange an einem Brunnen getroffen wurde. Vier Wochen lang lag er damals im Krankenhaus.
Cannabis verordnet gegen Schmerzen im Kopf
Ganz schlimm erwischte es ihn im Jahr 2015, als er bei einem Besuch in der Türkei von einem Bekannten am Flughafen abgeholt wurde. Bei einem kleinen Umweg gerieten beide in eine Schießerei – 87 Schrotkugeln trafen ihn im Kopf und am Oberarm. Seitdem kann er nach eigenen Angaben nicht mehr arbeiten. Die Ehe mit seiner Frau, mit der er vier Kinder hat, ging in die Brüche, weil sie sich erst einem anderen und dann noch einem zweiten Mann zugewandt habe, als Ersterer ins Gefängnis kam. 2021 folgte die Scheidung. Bis dato leide er unter Panikattacken mit Schwindelanfällen, sagte er aus. Gegen die Schmerzen im Kopf habe sich als einziges Mittel medizinisch verordnetes Cannabis als hilfreich herausgestellt.
Er soll acht Mal wuchtig auf sein Opfer eingestochen haben
Die Staatsanwaltschaft wirft dem Angeklagten, der zuletzt in Schönaich und Böblingen gelebt hat, versuchten Totschlag und gefährliche Körperverletzung vor. Nach ihren Ermittlungen hat der 48-Jährige geplant, den zweiten Freund seiner Ex-Frau zu töten, mit dem sie seit Februar dieses Jahres zusammen gewesen sei. Er habe am 22. Mai dieses Jahres ein Messer mit einer neun Zentimeter langen Klinge eingesteckt und sei nach Renningen gefahren, wo er zufällig auf den Mann getroffen sei. Nach einem verbalen Streit habe er das Messer gezückt und acht Mal wuchtig auf sein Opfer eingestochen.
Das Opfer habe den Angeklagten trotz seiner Verletzungen wegstoßen können und sei in eine S-Bahn gestiegen. Der Angeklagte habe ihm erst folgen wollen, sei dann aber Richtung Freibad geflüchtet, als er bemerkt habe, dass einige Fahrgäste auf den blutenden Mann aufmerksam geworden seien. Dieser schwebte durch die Stichverletzungen an Hals, Schulter, Rippen und Ellenbogen in akuter Lebensgefahr. Eine Operation rettete ihn.
Über seinen Verteidiger Werner Haimayer gab der 48-Jährige die Messerstiche grundsätzlich zu. Er sei am 22. Mai auf dem Weg zu seiner Apotheke nach Leonberg gewesen, wo er stets das verordnete Cannabis bekomme. Da sein Vorrat zu Ende war, habe er schon auf der Fahrt in der S 60 eine gewisse Unruhe verspürt. In Renningen habe die Bahn dann gehalten, die Fahrgäste seien angewiesen worden, in einen anderen Zug auf einem anderen Bahnsteig zu umzusteigen.
Da sei ihm eingefallen, dass er ein Messer bei sich habe – zum Obst schneiden
Auf dem Weg dorthin sei er auf den Mann getroffen, der seit Februar dieses Jahres ein Verhältnis mit seiner Frau gehabt habe und mit dem er über soziale Medien in Kontakt gewesen sei. Der Mann, den er zuvor nie persönlich gesehen habe, habe ihn angesprochen und beleidigt. Zudem habe er ihn „am Schlafittchen gepackt und ihm einen Faustschlag ins Gesicht versetzt“. Er habe massive Angst bekommen. Da sei ihm eingefallen, dass er ein Messer bei sich hat, mit dem er üblicherweise Obst schneide, wenn er unterwegs Hunger bekomme. Er habe zugestochen, wie oft wisse er nicht. Kurz darauf sei er festgenommen worden. Er selbst habe durch die Schläge einen Kiefer- und Nasenbruch erlitten.
Für den Prozess, bei dem auch zwei Gutachter involviert sind, hat das Gericht sechs weitere Verhandlungstage angesetzt, das Urteil soll am 4. Dezember verkündet werden.