Hier Am Kührain hat sich die Tat am 4. Juli ereignet. Foto: 7aktuell.de/Daniel Jüptner

Die Aufschrift „Nürtinger Hurensöhne“ auf einem T-Shirt könnte einen 19-Jährigen wohl dreifach provoziert haben, meint der Sozialwissenschaftler Kurt Möller.

Nürtingen - Nach der Messerattacke, bei der am 4. Juli ein 27-Jähriger in Nürtingen lebensgefährlich verletzt worden war, sind viele Menschen immer noch fassungslos. Wie kann es passieren, dass ein Mann wegen eines T-Shirts niedergestochen wird? Auf dem Shirt des Opfers stand der Aufdruck „Nürtinger Hurensöhne“. Das ist ein Songtitel der Punkband Roidige Hunde, in welcher der 27-Jährige spielt.

Ein ,echter Kerl‘ lässt eine Provokation nicht auf sich sitzen

Auf Nachfrage erklärt der Sozialwissenschaftler Kurt Möller von der Hochschule Esslingen, dass der mutmaßliche Haupttäter – ein 19-jähriger Nürtinger – den Schriftzug auf dem T-Shirt potenziell gleich als „dreifache Provokation“ aufgefasst habe. Erstens sei davon auszugehen, dass sich der junge Mann in seiner männlichen Ehre angegriffen fühlte.

„Jemand, der von sich glaubt, nach außen zeigen zu müssen, dass er ein ‚echter Kerl‘ ist, lässt den Ausdruck ‚Hurensohn‘ nicht auf sich und seinen Angehörigen sitzen. Er verspürt vielmehr den spontanen Impuls, die Ehre seiner Familie und seiner Mutter – oder was er dafür hält – verteidigen zu müssen, notfalls mit Gewalt.“ Solche Gedanken könnten sich im Kopf des Angreifers abgespielt haben. In manchen Milieus unter Freunden gängige Ansprachen wie „Na, du alter Hurensohn/du altes Arschloch, wie geht’s dir heute?“ beinhalteten Ironie, wie geschmacklos man sie auch finden möge. Diese womöglich auch bei „Nürtinger Hurensöhne“ beabsichtigte Ironie habe der 19-Jährige ganz offensichtlich nicht als solche wahrgenommen.

T-Shirt als Angriff auf ein Territorium verstanden

Zweitens könnte, so der Esslinger Professor, der junge Mann die Aufschrift „Nürtinger Hurensöhne“ als „Angriff auf ein Territorium“ verstanden haben, „das er glaubte verteidigen zu müssen“. Die Aufschrift könnte er so interpretiert haben, dass die Nürtinger, also auch er selbst, allesamt als Hurensöhne anzusehen seien.

Dem überkommenen Männlichkeitsmuster territorialer Revierkämpfe folgend könnte der mutmaßliche Täter entsprechend gehandelt haben. „Auch dann fühlt sich wieder das Selbstbild des ,echten Kerls‘ angesprochen.“ Drittens hat laut Kurt Möller möglicherweise auch allein das Erscheinungsbild des Opfers – ein Angehöriger der Punkszene – auf den 19-Jährigen als Provokation gewirkt.

Gruppendynamik hat eine Rolle gespielt

„All das erklärt aber immer noch nicht, wie es zu dem Messerstich gekommen ist“, sagt Kurt Möller. Es sei vielmehr das Zusammenspiel zahlreicher Faktoren für Gewaltausübung ausschlaggebend. Einen erheblichen Einfluss würden neben Gelegenheitsstrukturen auch die individuellen Dispositionen haben, etwa die aktuelle Stimmung, in der sich jemand befindet, und seine Fähigkeit zur Impulskontrolle bei gefühlten Provokationen.

Wie offenbar wohl auch in diesem Fall könne daneben die Gruppendynamik eine große Rolle spielen. Einer der mutmaßlichen Mittäter soll dem 19-Jährigen ein Messer zugesteckt haben – etwa in einem von ihm so gesehenen „Akt von Solidarität“. „Entscheidend ist das von einer klassischen Gewaltmoral geprägte männliche Selbstverständnis und dessen Weitergabe von Generation zu Generation“, erklärt der Professor. Diese Vorstellungen von maskuliner Ehre gebe es unter einer Vielzahl von Jugendlichen, sie seien aber, wie Studien ausweisen, unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund besonders verbreitet. Der 19-Jährige ist Mazedonier, einige der mutmaßlichen Mittäter haben ebenfalls ausländische Wurzeln. Wie durchbricht man diesen Kreislauf? Kurt Möller zufolge kommt es darauf an, „dass wir andere Vorstellungen von Männlichkeit etablieren“.

Im Nürtinger Jugendhaus herrscht Betroffenheit

Eine Initiative in diese Richtung kündigt Antonia Jaksche, die Leiterin des Nürtinger Jugendhauses am Bahnhof, an. In der Einrichtung herrscht nach der Tat immer noch große Betroffenheit.