Angela Merkel beim Treffpunkt Foyer der Stuttgarter Nachrichten. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Merkel, die Strippenzieherin. Merkel, die EU-Retterin. Merkel, die Wahlkämpferin. Die Bundeskanzlerin ist in diesen Tagen an allen Fronten gefordert. Am Dienstagabend war sie es in Stuttgart.

Stuttgart - Es gibt Menschen, die kommen nur mit vier bis fünf Stunden Schlaf pro Nacht aus. Angela Merkel hat jetzt einige solcher Tage hinter sich. Vielleicht sollte man besser von Wochen sprechen. Die Bewältigung der Flüchtlingskrise prägt seit Monaten ihren Terminkalender. Und sie wird nicht müde, für ihren Weg zu werben, der da heißt: Dieses globale Problem kann nur europäisch gelöst werden, obendrein mit Unterstützung der Türkei. Das sagt sie in jede Fernsehkamera, das sagt sie in jedem Interview, das sagt sie derzeit auch im Landtagswahlkampf. So auch am Dienstagnachmittag in Nürtingen. Doch obwohl ihre erhoffte Lösung, die faire Verteilung von Flüchtlingen unter den EU-Staaten noch immer nicht erreicht ist, zeigt sie keine Spur von Resignation.

Dienstagabend, kurz vor 19 Uhr. In Begleitung von CDU-Spitzenkandidat Guido Wolf betritt sie die Stuttgarter Liederhalle. Wie immer dunkle Hose, wie immer farbiges Jacket. Heute ist es himmelblau. Und natürlich geht es beim „Treffpunkt Foyer“ unserer Zeitung zu aller erst um den EU-Gipfel vom Montag und die Flüchtlingsproblematik.

Dass es noch keinen Durchbruch gab, ja, okay. Aber mit einem Einblick in diplomatische Bemühungen macht Merkel schnell klar, dass es eben nicht leicht ist, alle 28 EU-Staaten auf eine Linie zu bringen. Schon Sonntagabend habe sie sich mit Kollegen aus anderen Ländern getroffen, unter anderem mit dem französischen Staatspräsidenten Francois Hollande. „Wir wollten unsere Positionen abstimmen.“ Der Vorschlag aus Türkei, mehr für die Flüchtlinge zu tun, wenn die EU denn die Geldbörse stärker öffnet, „hat mich dann überrascht“. Positiv wohlgemerkt.

Merkel verbreitet Optimismus

Also verbreitet Angela Merkel vor den 1800 Zuhörern im voll besetzten Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle denn auch Optimismus, während vor der Halle S-21-Gegner lautstark protestieren. Natürlich brauche die deutsche Außenpolitik in angespannten Zeiten wie jetzt „eine Neuorientierung“, das gelte auch für Sicherheitsfragen. Es bleibe ihr oberstes Ziel bei den weiteren Gesprächen in den nächsten Wochen, „die EU zusammenzuhalten“. Hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) also recht, wenn er stets behauptet, außer Merkel könne niemand das Problem lösen, fragt Moderator Christoph Reisinger, Chefredakteur unserer Zeitung. „Nein, nein, alleine schaffe ich das natürlich nicht“, winkt die Kanzlerin mit freundlichem Lächeln ab. Und die permanenten Störfeuer aus München? Ach, winkt sie nochmals ab, es sei doch „eine gute Tradition, dass die Bayern außenpolitische Aktivitäten entfalten“. Das sei schon okay, zwinkert sie. Soll heißen: Der Horst Seehofer bringt mich nicht von meiner Linie ab.

Allein, bei allem Schalk räumt auch die Kanzlerin ein, dass sie „Sorge vor einem Bruch der EU“ hat. Damit jeder im Saal versteht, was das bedeuten würde, gibt’s eine zweiminütige Nachhilfeeinheit: Dann sei Schluss mit der Freiheit der Märkte, dann gebe es für Urlauber nicht mehr die lieb gewordene Reisefreiheit. Und vor allem: „Die Schlagkraft Deutschlands in der Welt ist dann gefährdet.“ Alle Versuche, eigene Wege zu gehen, wie dies Ungarn, die Slowakei oder auch Österreich derzeit praktizieren, seien deshalb falsch. „Wenn wir so anfangen, findet das kein gutes Ende. Das wird uns historisch nicht gut bekommen“, sagt sie mit fester Stimme.

Wichtig sei es jetzt, die Außengrenzen besser zu sichern und die lückenlose Registrierung der Flüchtlinge voranzutreiben. Gerade Griechenland habe da zuletzt „erhebliche Fortschritte gemacht“. Sie habe Verständnis, wenn sich Bürger zunehmend vor einer Überfremdung Deutschlands fürchten, aber dazu gebe es in Wahrheit keinen Grund. „Die Politik des Durchwinkens ist vorbei.“ Bis Mitte dieses Jahres „haben wir beim Bundesamt den kompletten Überblick“. Sprich, der Flüchtlingstourismus soll in Deutschland dann ein Ende haben.

Mit einer Portion Ehrlichkeit

Es wirkt wie eine Beruhigungspille fünf Tage vor der Landtagswahl. Guido Wolf, der in der ersten Reihe im Saal im Beisein vieler anderer Prominenter die Diskussion mit Interesse verfolgt und weiß, dass die Flüchtlingsproblematik wahlentscheidend sein könnte, dürfte diese Aussage gerade recht kommen. Hatte er sich nicht vor wenigen Wochen für eine Verschärfung des Kanzlerinnen-Kurses eingesetzt, hatte er nicht für Obergrenzen am Tag geworben? Davon ist an diesem Abend zwar keine Rede. Aber Merkel will deutlich machen: Wir sind schon weit, liebe Bürger, vertraut uns, vertraut nicht den extremen Parteien wie der AfD. Sie sagt aber auch: „Wir werden noch sehr viel diskutieren müssen.“ Sprich: Wann es dauerhaft eine Besserung gibt, weiß niemand.

Diese Portion Ehrlichkeit zieht sich durch das gesamte, einstündige Gespräch. Die Bundeskanzlerin muss einräumen, dass man in Deutschland „jahrelang“ die Probleme der dritten Welt nicht zur Kenntnis genommen habe. „Wir haben uns weggeduckt zwischen 2003 und 2005, als viele afrikanische Flüchtlinge nach Gibraltar gekommen sind.“ Nach dem Motto: Was interessiert die Berliner Politik, wenn zwischen Marokko und Spanien das Drama seinen Lauf nimmt. Ein Versäumnis mit Langzeitfolgen: „Wir tragen eine gewisse Mitschuld an der Entwicklung.“ Ja, man müsse einsehen, dass die Flüchtlingsströme der vergangenen Monate eigentlich niemand überraschen konnten.

Andere Themen wie die Wiedervereinigung, die Finanzkrise und die Bemühungen um einen besseren Klimaschutz hätten halt eine größere Rolle im politischen Alltagsgeschäft gespielt. „Die Probleme mit den Flüchtlingen hat man gewusst. Die Frage ist, ob man richtig reagiert hat.“

Merkel lässt sich nicht beirren

Bei aller Einsicht und bei allem Optimismus müsse man aber wachsam bleiben. Denn die Welt steckt voller Krisen. Beispiel Libyen. Es sei dringend nötig, dort Sicherheitskräfte auszubilden, um Terrorgruppen wie den „Islamischen Staat“ zu bekämpfen. Vor allem aber sei es nötig, „mit aller Kraft eine Einheitsregierung hinzubekommen“. Wenn es nur so leicht wäre. Oder das Beispiel Afghanistan. Die deutschen Sicherheitskräfte will sie nicht wie geplant Ende dieses Jahres abziehen, sondern „länger dort lassen“.

Womit sich zwangsläufig die Frage stellt: Wohin führt das noch alles, wo soll sich Deutschland überhaupt engagieren? Und vor allem: Ist das alles noch durch die geltende Gesetze gedeckt? Seit langem beklagen erfahrene Juristen, dass Deutschland ohne mit der Wimper zu zucken, das Dublin-Abkommen breche und die Schengen-Verträge einfach außer Kraft setze. Handelt Angela Merkel also illegal? Europäisches Recht habe stets Vorrang vor nationalem Recht. „In diesem Ermessensspielraum bewegen wir uns.“

Kein Zweifel: Merkel will sich auch an dieser Stelle nicht beirren lassen. Und an eine Niederlage der CDU bei der Landtagswahl mag sie nicht denken. Sie befasse sich „nicht mit Spekulationen“, also nicht mit schlechten Umfragewerten. „Da ist die Hälfte der Kraft sonst weg.“ Jetzt gehe es um Inhalte, „und da ist Guido Wolf der bessere Kandidat“. Bei so viel Fürsprache darf die Frage nicht fehlen, ob sie 2017 bei der Bundestagswahl nochmals antritt. „Das werde ich zum geeigneten Zeitpunkt sagen. Aber heute Abend ist nicht der geeignete Zeitpunkt.“

Da ist sie wieder, die Diplomatie der Kanzlerin. Diesmal mit einem Hauch von Privatem. Sie sei gerne Politikerin, „es hat mich ja keiner dazu gezwungen“. Und der Spitzname „Mutti“? Merkel schmunzelt: „Ich kann damit leben.“ Der Abend ist vorbei. Sie eilt zum Flugzeug zurück nach Berlin. Ob sie wieder „einnickt wie auf dem Herflug“, wie sie zuvor ehrlich eingeräumt hat. Es bleibt ihr Geheimnis. Manche kommen eben mit ganz wenig Schlaf aus.