Das musikalisch-mimische Multitalent Meret Becker hat mit ihrer Band Tiny Teeth im Theaterhaus in Stuttgart einen fulminanten Zirkus aus der Mottenkiste gezaubert.
Bleich gepudert und mit großem Blick tritt Meret Becker am Sonntagabend in ihre Manege auf der Bühne im Theaterhaus. Sie steckt in einem sich dramatisch bauschenden Vokuhila-Rock aus Tüll, der aussieht, als habe sich die Schneiderin nicht zwischen Tutu und Brautkleid entscheiden können. Der nur zufällig passende Schleier auf Beckers Haar hat schon bessere Tage gesehen, dafür funkeln auf ihrem Trikot edle silberne Applikationen.
Schon das Kostüm erzählt eine Geschichte für sich, Meret Becker hat dazu noch eine mittelgroße Wagenladung mit Klimbim auf die Bühne geschüttet, Kinderinstrumente, ein paar Puppenbeine aus Porzellan in Kinderlebensgröße, ein vor ein Kettcar gespanntes Karussellpferdchen, eine singende Säge, einen falschen Revolver, komische Hütchen und noch vieles mehr.
Das Wichtigste an diesem Abend ist aber Beckers dreiköpfige Band, die Tiny Teeth, bestehend aus Marie-Claire Schlameus am Cello, Buddy Sacher an Gitarre, Banjo und Mandoline, und Ben Jeger, „Professor für traurige Walzer“, wie Meret Becker sagt, an Glasharfe, Klavier und diversen anderen Tasteninstrumenten.
Voluminöse Klangkulisse mit geringsten Mitteln
„Le Grand Ordinaire“ heißt das Programm, das die vier an diesem Abend präsentieren, ein musikalischer Zirkus wie aus der Mottenkiste gezogen, und genau das, dieses Untote, melancholisch halb Verrottete, macht den besonderen Charme der folgenden gut eindreiviertel Stunden aus. Die Musiker sitzen unter einem einfachen Metallbogen, in den ein weißer Vorhang geschlungen ist. Die Manege ist nur angedeutet, mit ein paar diagonal zwischen Bogen und Boden gespannten Glühbirnen am Draht als Zirkuszelt. Vom Bühnenhimmel baumelt ein weißer Ring, später wird ein Techniker ein klappbares, rundes Kissen darunter schieben. Doch zuerst bringt Meret Becker ein riesiges, mit Wasser befülltes Cognacglas zum Singen. Ein paar einzeln gezupfte Cello-Saiten, wenige harte Schläge auf ein Stand-Tom und Beckers Gesang – fertig ist der erste Song.
Mit geringsten Mitteln lässt die Band eine erstaunlich volle Klangkulisse entstehen, Becker singt von einer ‚Kontorsionistin‘, zum Walzer mit singender Säge und Klavier rieselt Schnee aus einer kleinen Maschine. Später kehrt ein livriertes Mädchen namens Pina das Konfetti zusammen und wirft die falschen Flocken ins Publikum.
Meret Becker hat währenddessen unbemerkt ihren Tüll-Alptraum abgestreift und steigt in den Reifen, um dort ein Schläfchen zu halten. Der Reifen wird zum Mond, in dem sich die Sängerin rekelt und ein französisches Lied intoniert. Dazu gibt sie den sterbenden Schwan und streichelt sich mit kompliziert überkreuzten Händen die Wangen. Die Virtuosität der kleinen Turn- und Gesangsnummer ist nur angedeutet, erscheint aber nicht weniger perfekt als wirklich waghalsige Artistikdarbietungen in großen Manegen. Becker erzeugt die Illusion einer Illusion, wenn sie die Porzellanpuppenbeine über mehrere Eierpaletten stolzieren lässt, mit einem über die Beine baumelnd gehaltenem Regenschirm als Rocksaum. Obwohl die von Becker geführten Beine die Eier kaum berühren, staunt man aufrichtig, dass die Schalen nicht zerbrechen. Im Anschluss singt sie ein traurig kokettes Lied über eine Bordsteinschwalbe, ohne den Begriff oder andere Synonyme für Prostitution zu verwenden. Sie beschreibt das Äußere der Frau mit verwischtem Lippenstift und müden Augen, singt „das Ganze erscheint wie fürs professionelle Geschäft erschaffen“, und bezeichnet eben nicht den Menschen, sondern die Fassade. Die Miniaturen gestaltet Becker mit differenziertem gesanglichen Ausdruck, plärrt wie eine Göre, gurrt wie eine Diva, mal zerbrechlich und klein, mal rotzig und überlebensgroß.
Zum Abschied gibt’s Tränen und ein Trinklied
Wenn sie mit einem Helium gefüllten Mops-Ballon an der Hand einen großen Schluck aus einem Flachmann nimmt und Edith Piafs „La Vie en Rose“ gurgelt, kann einem das Tränen der Rührung in die Augen treiben, genauso wie ein sehnsüchtig schunkelnder Seemannswalzer mit Schifferklavier vor der Kulisse des von Becker zum Segel aufgespannten Vorhangtuchs. Eine Windmaschine und ein paar verwirbelte Kunstnebelschwaden erzeugen den Eindruck von schwerer See. Doch irgendwann ist der schöne Zirkus aus, zum Abschied grölt Becker ein Trinklied und leert eine Flasche Bier auf Ex. „Das ist in unserer Familie eine Frage der Ehre“, prustet sie noch, und ist weg.