Der Dieselskandal ist für Mercedes noch immer nicht ausgestanden. Foto: picture alliance/dpa/Sebastian Gollnow

Acht Jahre lang wurden Mercedes und VW mit Tausenden Klagen von Diesel-Käufern überzogen. Während VW viele Autos zurücknehmen musste, gingen die Verfahren für Mercedes meist günstig aus. Das neue Urteil des EU-Gerichtshofs EuGH kommt da überaus ungelegen.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) senkt die Hürden für Dieselklagen. Wir erklären, was dies bedeutet.

Was hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) genau entschieden?

Bei der Entscheidung ging es um den Fall des Besitzers eines Diesel-Mercedes, der vom Hersteller Schadensersatz verlangte, weil die Abgasreinigung des Autos mit einem sogenannten Thermofenster ausgestattet war. Dieses sorgt dafür, dass die Abgasreinigung bereits bei herbstlich niedrigen Temperaturen ausgeschaltet wurde, sodass die Luft deutlich stärker verschmutzt wurde, als zu erwarten gewesen wäre. Es ging in dem Verfahren aber nicht um die Zulässigkeit dieser Abgasreinigung. Die Frage war vielmehr, wie hoch die Hürden sind, um wegen einer unzulässigen Abgasreinigung einen Anspruch auf Schadenersatz geltend machen zu können.

Wie hoch sind diese Hürden jetzt?

Wesentlich niedriger als bisher. Die bisherige Rechtsprechung richtete sich nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH), der entschieden hatte, dass einem Autohersteller erst eine sogenannte vorsätzliche sittenwidrige Schädigung nachgewiesen werden muss, ehe er mit Aussicht auf Erfolg auf Schadenersatz verklagt werden kann. Eine solche Schädigung liegt nach der bisherigen Rechtsprechung aber bisher nur bei Volkswagen vor, bei dessen Skandalmotor EA189 die Abgasreinigung auf dem Prüfstand anders funktionierte als auf der Straße. Bei Mercedes dagegen unterschied die Software nur nach Temperaturen: Bei mittleren Temperaturen, wie sie auch auf dem Prüfstand herrschen, funktionierte sie zwar am besten – aber eben nicht anders als auf der Straße. Im Ergebnis aber waren auch bei vielen Mercedes-Autos die Messwerte bei Tests wesentlich besser als auf der Straße.

Hat Mercedes überhaupt etwas falsch gemacht?

Das ist auch acht Jahre nach Beginn des Dieselskandals noch nicht entschieden. Der EuGH allerdings hält Thermofenster nur in sehr engen Grenzen für zulässig, sodass Mercedes womöglich zwar gesetzwidrig, aber ohne Betrugsabsicht gehandelt hat. Nach der bisherigen Rechtsprechung hätte das nicht gereicht, um Schadenersatz geltend machen zu können. Diese Schutzmauer aber ist jetzt weggefallen. Somit könnte Mercedes vom Dieselskandal wieder eingeholt werden.

Warum wird die Abgasreinigung bei bestimmten Temperaturen abgeschaltet?

Die Hersteller argumentieren mit dem Motorschutz. Werden Abgase erneut verbrannt, kann bei zu niedrigen Temperaturen über kurz oder lang eine sogenannte Versottung eintreten: Es bildet sich eine matschige Masse, die empfindliche Teile wie das Ventil der Abgasrückführung mit der Zeit lahmlegt. Der EuGH akzeptiert dies nicht als Begründung für Thermofenster, sondern lässt ein Herunterfahren nur gelten, wenn sich dadurch unmittelbare drohende Motorschäden oder gar Gefahren vermeiden lassen.

Bedeutet das Urteil eine Erfolgsgarantie für Klagen gegen Mercedes?

Nein. Denn Mercedes argumentiert, man habe weder vorsätzlich noch fahrlässig gehandelt, sondern überhaupt keinen Verstoß begangen. Durch die strengeren Maßstäbe, die der EuGH bereits in einem früheren Urteil an die Zulässigkeit von Thermofenstern angelegt hat, wird es allerdings schwieriger, diese Position zu halten. Mercedes musste für viele Tausend Dieselfahrzeuge amtliche Rückrufe hinnehmen; im Jahr 2019 zahlte das Unternehmen überdies ein Bußgeld von 870 Millionen Euro, weil das Unternehmen behördliche Genehmigungen für Autos erwirkte, deren Schadstoffausstoß zu hoch war. Allerdings weist Mercedes auch darauf hin, dass selbst dann, wenn ein Schadenersatzanspruch bestehen sollte, noch nicht zwingend eine Leistung erfolge. Denn ein Schadenersatz sei nur möglich, wenn Käufern auch ein Schaden entstanden sei.

Können sich Verbraucher in Verfahren bereits auf das EuGH-Urteil berufen?

Nein, aber es dürfte schnell in die Rechtsprechung eingehen. Denn der sogenannte Dieselsenat des Bundesgerichtshofs hat eine Entscheidung über Thermofenster auf den 8. Mai verschoben, um die EuGH-Entscheidung berücksichtigen zu können. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs wiederum bindet alle nachgeordneten Gerichte, sodass das Urteil in Deutschland rasch eine durchgreifende Wirkung entfalten dürfte.

Wie viele Fälle sind vom Urteil betroffen?

Durch die vielen Dieselverfahren waren die Gerichte überlastet. Viele Fälle sind somit noch nicht entschieden. Viele Gerichte hatten Verfahren auch auf Eis gelegt. So sind beim BGH mehr als 1900 Revisionen und Beschwerden anhängig. Auch beim Musterverfahren, das die Verbraucherzentrale für 2850 Autobesitzer derzeit vor dem Oberlandesgericht Stuttgart führt, wird die Entscheidung berücksichtigt werden können. Nach Angaben von Jürgen Resch, Chef der Deutschen Umwelthilfe, betrifft die Entscheidung bis zu zehn Millionen Dieselkäufer.

Worin kann der Schadenersatz bestehen?

Grundsätzlich sind sowohl Zahlungen denkbar als auch der sogenannte große Schadenersatz, der in einer Rücknahme des Fahrzeugs gegen Erstattung des Kaufpreises besteht. Darüber werden im Einzelnen die deutschen Gerichte zu befinden haben.