In den ukrainischen Bezirken Luhansk und Donezk trauen sich Männer nicht mehr auf die Straße. In Kiew fürchten die Bewohner, Russland werde bald nach der ganzen Ukraine greifen. Sicher fühlt sich in der Ukraine längst niemand mehr.
Berlin/ Kiew - Am Tag, nach dem in Europa wieder ein Krieg droht, fängt Olena Kuk an, in Kiew ihre Tasche zu packen. So berichtet sie es via Whatsapp. Bis zuletzt, sagt Kuk, sei sie sicher gewesen, dass Wladimir Putin blufft. Aber als der russische Präsident die Separatisten-Gebiete Donezk und Luhansk am Montagabend als souveräne Staaten anerkennt, seine Truppen in die Ostukraine einmarschieren lässt, bleibt wenig, dessen man sich noch sicher sein kann.
Die meisten, so berichten es viele Augenzeugen, verfolgen fassungslos Putins Ansprache im Fernsehen. Sie ahnen sofort, was sich hinter seinen Worten verbirgt. Ein neuer Krieg. Nicht mehr nur dort, wo er seit acht Jahren ohnehin wütet, in den Gebieten der pro-russischen Separatisten. Plötzlich scheint nicht mehr ausgeschlossen, dass Putin nach der ganzen Ukraine greifen könnte.
„Sie schicken Videos von den Zerstörungen“
Und viele vor Ort haben längst ihre Schlüsse gezogen. Die Ausländer verlassen das Land. Botschaftspersonal wird verlegt. Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit hat ihre Mitarbeiter ausgeflogen. Und so packt Olena Kuk an jenem Tag ihre Papiere in einen Rucksack, dazu Bargeld, Medikamente. Vorbereitung auf das, was sich niemand vorstellen mag: Flucht.
Die Lage bleibt derweil unübersichtlich. Die Frontlinie zwischen den ukrainischen Regierungstruppen und den separatistischen Milizen ist weniger als 60 Kilometer von der Stadt Slowjansk mit ihren 100 000 Einwohnern entfernt. Dort sitzt Darya Romanenko vor ihrem Bildschirm und berichtet per Zoom, was sich in Slowjansk seit 2014 abzeichnet: die wachsenden russischen Begehrlichkeiten. Darya Romanenko ist in der Ukraine geboren, hat aber die Hälfte ihres Lebens in Deutschland verbracht. In Kehl am Rhein machte sie Abitur, in Freiburg hat sie Geschichte studiert. Seit gut einem halben Jahr arbeitet sie für „Drukarnja“, die Dachorganisation einer Reihe von NGOs in der Nähe des Kriegsgebietes. „Die Menschen, mit denen ich arbeite, haben Verwandte und Bekannte in den Orten, die von den Milizen bombardiert werden“, erzählt Romanenko. „Sie schicken Videos von den Zerstörungen.“
Drei Frauen haben einen Telefondienst aufgebaut – für Traumatisierte
Die Menschen in der Stadt Slowjansk leben bereits seit April 2014 im Ausnahmezustand. Russland hatte gerade die Krim annektiert, da tauchten auch in Slowjansk plötzlich Menschen auf, die gegen die Führung in Kiew protestierten. Zuerst lautstark, dann unter Einsatz von Gewalt, dann übernahmen sie unter der Führung des russischen Geheimdienstoffiziers Igor Girkin, Deckname „Strelkow“, die Macht in der Stadt. Im Juli 2014 eroberten ukrainische Regierungstruppen Slowjansk zurück. „Es ist eine überwiegend russischsprachige Region. Aber eine Polarisierung, wie sie die russische Propaganda immer wieder behauptet, ist kaum zu spüren“, sagt Romanenko.
Das kann sie aus ganz persönlichem Erleben schildern. Romanenko vertritt eine deutsche NGO in der Ostukraine, die das Russische im Namen führt: den Deutsch-Russischen Austausch. Im Mai vergangenen Jahres hat ihn Putin verbieten lassen. Romanenko will weitermachen. „Jemand muss doch da sein“, sagt sie. „Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel Kraft die Menschen hier haben.“ Dann erzählt sie von drei Frauen in einer Gemeinde, die derzeit täglich unter Beschuss steht. Sie hat sie kürzlich besucht. Die Frauen standen in den Ruinen einer Schule, die Mauern seien eingestürzt gewesen. Wo die Wände noch standen, waren Einschusslöcher zu sehen. In einem der halbwegs erhaltenen Räume hatten die Frauen ein Büro für einen Telefondienst aufgebaut. Auf Plakaten hatten sie vorher eine Hotline angeboten für Menschen, die traumatisiert sind oder Suizidgedanken haben. „Bei allem Elend sind diese jungen Frauen optimistisch geblieben“, sagt Romankenko. Doch alles, was sie geplant haben, ist nun hinfällig.
Viele junge Männer verstecken sich vor der Mobilmachung
Dazu kommen Berichte einer Massenflucht aus den Rebellengebieten in den vergangenen Tagen. Romanenko hält das für eine zynische Inszenierung. „Das ist keine Evakuierung, es ist eine Deportation“, sagt sie. Sie habe Kontakt zu Quellen in den Rebellengebieten, die sie für glaubwürdig hält. „Mich erreichen Berichte, dass Leute mitten in der Nacht aus dem Schlaf getrommelt, in eiskalte Busse verfrachtet wurden und dann stundenlang ins russische Rostow gefahren wurden. Alles unter dem Vorwand, die ukrainische Armee habe mit dem Angriff begonnen“, sagt Romanenko. Über ein Dialogforum zwischen Leuten aus den von Separatisten beherrschten Gebieten und aus Slowjansk hat sie erfahren, dass sich viele junge Männer vor der Mobilmachung verstecken.
Hinter der Frontlinie, im Gebiet Luhansk, das seit 2014 von Separatisten kontrolliert wird, wurde Männern zwischen 18 und 55 Jahren die Ausreise verboten – um im Zweifel an der Front für die Volksrepubliken gegen die Ukraine zu kämpfen. „Sie sind Geiseln“, sagt Karina, die aus Angst um ihre Familie ihren vollen Namen nicht veröffentlichen will, am Telefon. Ihre Mutter und deren Freund sitzen seit Tagen dort fest. Karina stammt aus Luhansk, wohnt aber in Kiew. Ihre Mutter und deren Freund waren zu einer Beerdigung in ihre Heimat gefahren, wo sie noch ein Haus haben. Jetzt müssen sie sich vor den Separatisten verstecken. „Meine Mutter hält ihren Freund zu Hause versteckt, denn die Separatisten entführen Männer auf der Straße.“ Karinas Vater wiederum unterstütze die Volksrepubliken. Er ist Russe, wohne aber in Luhansk, erzählt Karina . „Dorthin zurückzukehren, das war seine eigene Entscheidung“, sagt Karina. Ihr Vater habe sie in der Nacht auf Dienstag angerufen und von russischen Truppen berichtet, die nach Luhansk einmarschiert seien.
Viele haben einfach nicht genug Geld, um von dort weg zu ziehen
Karina erzählt auch von ihrer Schwester. Auch sie ist in Luhansk. Sie habe beobachtet, wie Separatisten 16-jährige Jungen auf der Straße aufgriffen. Zu einem habe sie Kontakt gehalten. Er wurde an die Kontaktlinie, nach Stachanow gebracht. „Keiner weiß, was vor sich geht – werden unsere Freunde, Brüder und Väter an der Front als menschliche Schilde benutzt?“, fragt Karina. „Viele Männer unterstützen die Volksrepubliken nicht. Sie haben einfach nur Familie und Häuser in Luhansk“, sagt Karina und klingt hilflos. Auch einer ihrer Freunde verstecke sich momentan in Luhansk. Er wohnt in Tschechien, doch stammt ebenfalls aus der ukrainischen Region und war auf Familienbesuch im Separatistengebiet. „Er verlässt seit Tagen sein Haus nicht und hat zu große Angst.“ Karina hat den Eindruck, viele von außen sähen all jene Menschen, die jetzt noch in den Volksrepubliken leben, als Unterstützer der Separatisten. Doch sie weiß aus ihrem Familienkreis: Viele haben einfach nicht genug Geld, um von dort weg zu ziehen.
Olena Kuk, deren gepackter Rucksack ihre einzige Versicherung dieser Tage ist, hat sich mittlerweile mit Freunden abgestimmt, was passiert, wenn es zu einem Angriff auf Kiew kommen würde – wie man Kontakt aufnimmt. Sie hält Kontakt zu Kollegen im Donbass. Und hat keinen Zweifel mehr, dass all dies nur der Beginn von etwas noch Schrecklicherem ist. „Ich mache mir wirklich Sorgen um sie und unsere Soldaten“, sagt sie.