Ministerpräsident Winfried Kretschmann in Heidenheim. Foto: dpa/Tom Weller

Im Urlaub hat Winfried Kretschmann die Akkus aufgeladen. Kaum zurück sieht sich der Grünen-Regierungschef dem Energiefresser Wahlkampf gegenüber. Gleich am ersten Tag muss er Schadensbegrenzung betreiben.

Nürtingen/Heidenheim - Von Null auf 100. Kaum ist Winfried Kretschmann zurück aus der Sommerfrische, stehen seine Grünen schon wieder in einer steifen Brise im Wahlkampf. Dabei will sich der 73 Jahre alte Regierungschef bei seinem Firmenbesuch in Nürtingen doch nur in Ruhe darüber informieren, wie diese Schnellladesäulen mit besonderer Speichertechnik für E-Autos funktionieren. Aber die Fragen zum Wahlkampf drängen, schließlich sind seine Grünen schon wieder in Erklärungsnot. Doch Gemach, er muss sich erst noch schlau machen, heißt es. Kretschmann hat in den freien Tagen seine Akkus wieder aufgeladen, die Energie wird er im Finale zur Bundestagswahl auch dringend brauchen.

Was ist passiert? Sein junger Finanzminister Danyal Bayaz hat eine Meldeplattform für Hinweise auf Steuerbetrüger ins Netz gestellt und damit einen bundesweiten Aufschrei beim politischen Gegner ausgelöst. Die Grünen wollten, dass Menschen in „Blockwart-Mentalität“ ihre Nachbarn beobachten und anschwärzen, heißt ein zentraler Vorwurf. Zwar sehen sich die Grünen im Recht, doch es gibt auch die Sorge, das etwas hängenbleibt. Die Debatte über den „Veggie-Day“ in Kantinen ist vielen noch in schlechter Erinnerung, weil das Etikett „Verbotspartei“ weiter an ihnen klebt wie ein alter klebriger Kaugummi.

Warum noch unbedingt vor der Bundestagswahl?

Der eine oder andere Grüne fragt sich, warum das Portal unbedingt noch vor der Bundestagswahl freigeschaltet werden musste. „Jetzt ist es so“, sagte Kretschmann am Donnerstag in Heidenheim, wo er auf seiner Firmentour beim Technologiekonzern Voith vorbeischaut. Es sei offensichtlich die Absicht des politischen Gegners gewesen, die Grünen in die Enge zu treiben. „Ob was hängenbleibt, das weiß ich nicht.“ Aber damit müsse man umgehen. „Das ist natürlich im Wahlkampf so, da werden die Dinge manchmal auch nicht ganz seriös zugespitzt.“

Die Grünen stehen unter Druck. In den Umfragen wird immer deutlicher, dass für Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock nach all den Patzern wohl nur Platz drei drin ist, hinter der schwächelnden Union von Armin Laschet und der SPD, die mit Olaf Scholz derzeit ungeahnte Beliebtheitswerte erreicht. Um noch zuzulegen, brauchen die Grünen reichlich Stimmen aus dem Land, das von einem der ihren regiert wird. Kretschmann steht zwar nicht auf den Plakaten, ist aber nach seinem klaren Sieg bei der Landtagswahl im Frühjahr auch in diesem Wahlkampf ein Pfund.

Kretschmann hält das Thema nicht wirklich für skandalisierbar

Natürlich ist er im hitzigen Streit um das Steuerbetrugs-Portal um Schadensbegrenzung bemüht: „Das ist nicht wirklich skandalisierbar“, sagt er. Man habe schon bisher anonym Steuerbetrüger anzeigen können - per Brief oder per Mail. „Jetzt ist es praktisch digitalisiert worden.“ Das sei alles. „Insofern verstehe ich die Aufregung jetzt nicht wirklich.“ Es sei falsch, wenn Union und FDP behaupteten, man rufe die Menschen dazu auf, den Nachbarn anzuschwärzen. „Es geht jetzt nicht darum, zum Denunziantentum aufzurufen.“ Das zu behaupten, sei absurd. „Es geht eben nicht darum, dass jetzt der Nachbar sagt, der hat eine Putzfrau, die nicht ordentlich versteuert ist.“

Dabei war der Vormittag noch ganz nach dem Geschmack des Grünen. Thomas Speidel, der Chef der Firma ads-tec, empfing ihn äußerst freundlich. Speidel ist stolz darauf, dass er vor zehn Jahren das Steuer herumgerissen hat. Bis dahin habe sein Unternehmen vor allem Zylinderköpfe für Mercedes geliefert, doch dann habe er radikal umgesteuert. „So ging es nicht weiter.“ Nun baut er vor allem Schnellladesäulen für E-Autos. „Wir waren bereit, alles zu riskieren beim Umstieg vom Verbrenner auf Elektro. Jetzt muss die Politik nachziehen“, fordert er.

Wie steht es um die Zusammenarbeit mit den Linken?

Für die Grünen ist er ein Vorzeige-Unternehmer, aber Speidel macht keinen Hehl daraus, dass ihm ein rot-grün-rotes Experiment in Berlin ein Graus wäre. Eine Koalition aus CDU und Grünen wäre sein Favorit. „Wenn Ökonomie und Ökologie sich verbinden, ist uns das natürlich am liebsten.“ Es ist kein Geheimnis, dass es Kretschmann ganz ähnlich geht. Schließlich hat er im Südwesten durchgesetzt, dass die Grünen wieder mit der CDU regieren. Doch rechnerisch reicht es im Bund wohl nicht für eine Zweier-Koalition. Und: Auch Kretschmann steht einer Zusammenarbeit mit der Linken sehr skeptisch gegenüber. Und so scheint etwas möglich, was der Ministerpräsident im Südwesten in letzter Minute noch verhindert hat. Eine Ampel mit SPD und FDP.