Foto: Piechowski

18 Prozent Steigung gilt es zu bewältigen, will man von der Veitskapelle im Ortskern von Mühlhausen aus die Wenzelstraße erklimmen. "Manche der Anwohner wünschen sich einen Aufzug", sagt Frank, "ich hingegen bin das Bergsteigen längst gewohnt."

"Als Kind hab' ich immer die Knie offen gehabt", sagt Lea Hedwig Frank, während sie versonnen und mit geröteten Wangen in einem alten, rot eingebundenen Fotoalbum blättert. Sie zeigt auf eine alte Schwarzweißaufnahme, die ein großes Haus zeigt, davor sieht man einen ungepflasterten Weg mit groben Kieseln: "In diesem Haus, in dem schon meine Ur- und Großeltern und später dann meine Eltern lebten, sind mein Bruder und ich aufgewachsen", sagt die 77-Jährige, "und da man damals noch genagelte Schuhe trug - damit sich die Sohlen nicht so schnell abnutzen -, bin ich auf dem Schulweg immer auf den Steinen ausgerutscht, auch, weil die Straße so steil ist."

18 Prozent Steigung gilt es zu bewältigen, will man von der Veitskapelle im Ortskern von Mühlhausen aus die Wenzelstraße erklimmen. Die steile Gasse führt an der Ruine der ehemaligen Walpurgiskirche sowie an kleinen Einfamilienhäusern vorbei, an ihrem Ende liegt die Weidenbrunnenstraße, an welcher die Felder anfangen. "Manche der Anwohner wünschen sich einen Aufzug", sagt Frank, "ich hingegen bin das Bergsteigen längst gewohnt." Auch mit schweren Einkaufstüten beladen, die es vom Kaufland an der Aldingerstraße hochzuschleppen gilt, macht sie nicht schlapp - erst seit ihrer Hüftoperation im vergangenen Jahr muss sie ab und zu eine kleine Verschnaufpause einlegen.

Zuhause angelangt wird sie jedesmal aufs Neue für die Mühen belohnt: Von Balkon ihres Hauses sowie von ihrem Garten aus hat sie einen wunderbaren Blick über das Neckartal. Das Haus erbaute sie im Jahr 1967 mit ihrem inzwischen verstorbenen Mann und zog dort zwei Söhne groß - an genau der Stelle, wo einst das Haus ihrer Vorfahren stand.

Lea Hedwig Frank blickt hinunter auf den alten Ortskern. "Das war schlimm damals", sagt sie unvermittelt. Ihre Augen ruhen wehmütig auf den etwas unterhalb ihres Hauses gelegenen Turmresten der Walpurgiskirche, die als Wehrkirche der Heidenburg vor 1275 gebaut und 1390 zur Pfarrkirche St. Walpurgis geweiht wurde.

Ihre Gedanken schweifen in die Vergangenheit. Zu der Nacht vom 14. auf den 15. April 1943, zum ersten Luftangriff auf Mühlhausen. Um dreiviertel Eins nachts gingen die Sirenen los. "Wir sind alle in den Keller - nur mein Großvater konnte und wollte nicht mit", erinnert sich Frank, die damals gerade einmal zwölf Jahre alt war. Eine Bombe traf die Walpurgiskirche. "Die Wucht hat meinen Großvater aus dem Bett geschmissen - er ist im selben Jahr noch gestorben. Eine Schulkameradin kam noch in der selben Nacht ums Leben." Frank überlebte und erlebte knapp ein Jahr später den zweiten Angriff, bei dem "noch mehr Häuser in Flammen standen". Insgesamt wurden in Mühlhausen von 41 Bauernhöfen 32 vernichtet, 83 Häuser zerstört und 130 beschädigt.

Bilder, die belegen, wie Mühlhausen vor den großen Luftangriffen im Krieg ausgesehen hat, malte der ursprünglich aus Unterensingen stammenden Gustav Kemmner, der 1927 ein heute noch bestehendes Haus an der Wenzelstraße 46 baute. Das berühmteste Werk des Künstlers zeigt eben jene alte Walpurgiskirche, von der heute nur noch Fragmente vorhanden sind.

Die etwas unterhalb der Walpurgiskirche gelegene Veitskapelle hingegen blieb von den Angriffen verschont. Die kunsthistorisch bedeutendste Kirche Stuttgarts, die ab 1380 von Meistern der Prager Dombauhütte gebaut wurde, ist äußerlich klein und schlicht, da sie aber von Umbauten und Bilderstürmern verschont blieb, erwartet den Besucher im Inneren ein farbiges Gesamtkunstwerk: Wandmalereien aus dem 15. Jahrhundert mit Szenen aus der Veits-Legende. Diese ehrt den Heiligen Veit, der trotz Folter seinem Glauben treu geblieben war. Im 14. Jahrhundert pilgerte man zur Veitskapelle, um sich vom Veitstanz heilen zu lassen: Einer Krankheit, heute als Chorea-Symptom bekannt, die sich in unwillkürlichen, raschen und unregelmäßigen Bewegungen der Extremitäten, des Gesichtes und des Rumpfes äußert.

Der Veitskapelle verdankt auch die Wenzelstraße ihren Namen. Im Jahr 1933 wurde diese nach dem in der Veitskapelle gleichfalls verehrten Nationalheiligen von Böhmen Wenzel benannt, der 921 bis 929 Herzog von Böhmen war. Die dem Namenstag entsprechende Bauernregel lautet: "Kommt Wenzeslaus mit Regen an, werden wir Nüsse bis Weihnachten ha'n."

Lea Hedwig Frank blickt nachdenklich auf den Kirschbaum in ihrem Garten, der bereits erste Knospen treibt. "Vor kurzem sind hier die Kinder noch die Wenzelstraße mit ihrem Schlitten runtergerodelt", sagt sie, "das haben wir früher auch immer gemacht - und in diesem Jahr war das endlich wieder möglich." Das Treiben auf der Straße hat sie immer genossen, auch im Sommer. "Früher haben die Leute in der Straße abends Bänke vor die Tür gestellt, da war die Verbundenheit zwischen den Nachbarn noch größer."

Sie greift wieder zu dem roten Fotoalbum und blättert langsam weiter. Ihre Wangen werden wieder rosig. "Früher war schon manches besser", sagt sie. Dann schließt sie das Buch energisch und legt es beiseite.