Lila (Ludovica Nasti, li.) und Lenù (Elisa Del Genio) in der Serie „My brilliant Friend“. In unsrer Bildergalerie können Sie sich durch den Ferrante-Kosmos klicken. Foto: HBO

Elena Ferrantes weltweit gefeierter Romanzyklus „Meine geniale Freundin“ erobert den Bildschirm und die Bühne. Ein Grund zur Freude?

Stuttgart - Erfolgsgeschichten ziehen ihre Bahn, die von ihrem Ursprung immer weiter hinausführt. Und man muss sehen, was dabei auf der Strecke bleibt – oder sich umgekehrt erst zu entfalten beginnt. Eine der großen Erfolgsgeschichten der letzten Jahre war der Romanzyklus „Meine geniale Freundin“ der italienischen Autorin Elena Ferrante, wer immer sich hinter diesem Pseudonym verbergen mag. Im Mittelpunkt stehen zwei Mädchen aus einem kleinbürgerlichen Viertel am Rande Neapels, dem sogenannten Rione. Mit allen Mitteln versuchen sie der engen Welt ihres Herkommens zu entrinnen. Was hieraus erwächst, ist eine konsequent aus weiblicher Perspektive erzählte Nachkriegsgeschichte, eine regionale Milieustudie, die sich zum Welttheater weitet, ein Italien-Roman, der sämtliche Dolce-Vita-Perspektiven in scharfe Aufnahmen einer bis ins Heute reichenden Misere auflöst, eine Liebes- und Freundschaftsschwarte – und ein Leseereignis, an das man sich allen Zumutungen, Brutalitäten, Desillusionierungen zum Trotz mit Sehnsucht zurückerinnert.

In einem ihrer seltenen E-Mail-Interviews bekannte die verborgene Autorin unlängst, immer schon neugierig gewesen zu sein, zu sehen, was mit den Figuren aus ihren Geschichten geschehe, „wenn sie das Papier verlassen und Abenteuer auf den Straßen des Spektakels suchen“. Auf zwei verschiedenen Wegen kann man ihnen derzeit außerhalb ihrer mehrere tausend Seiten dicken literarischen Heimstatt begegnen. Der Pay-TV-Anbieter HBO und der italienische Sender RAI haben mit großem Aufwand den ersten Band als Mini-Serie in acht Folgen verfilmt. Und im Mannheimer Nationaltheater ist am letzten Samstag gleich die Hälfte des ausladenden Zyklus‘ in einen dreistündigen Theaterabend verwandelt worden.

Unübersehbar ist, was Ferrantes Werk mit den besten unter den Serien gemein hat: den langen Atem, das große horizontale Panorama, die Entfesselung der Zeit, eine raffinierte Fortsetzungsdramaturgie und die dazugehörige Suchtsymptomatik. Das Theater wiederum hat sich in den letzten Jahren zu einem Abspielgerät für Stoffe aller Art entwickelt, was man sich allerdings inzwischen angewöhnt hat, als modische Marotte zu beargwöhnen, Ausdruck einer postdramatischen Übergriffigkeit, die häufig niemandem wirklich gut tut, dem Stoff so wenig wie der Bühne.

Schäbigkeit in frischen Farben

Aber vielleicht sollte man sich zunächst einmal frei machen vom bösen Blick einer Perspektive, die sich bei Adaptionen von vornherein nur auf das Moment des Verlusts orientiert: den Tribut an kommerzielle Verwertungslogik im Falle der Serie, thematische Trittbrettfahrerei aufseiten des Theaters. Und so folgt man am besten mit jener von der Autorin selbst nahegelegten Neugier der genialen Schusterstochter Lila und ihrer Freundin und späteren Chronistin Lenù auf zwei unterschiedlichen Wegen in die von Gewalt geprägten Regionen ihrer Armutswelt.

Lustigerweise drängt sich im Falle der von dem Arthouse-Regisseur Saverio Costanzo mit großer Sorgfalt realisierten Serie rasch ein vor allem im theatralen Kontext gebrauchter Begriff auf: Werktreue. Costanzo hat das neapolitanische Herz der Finsternis exakt nachzubilden versucht. Wer will, kann im Buch mitlesen. Im Voice Over schwebt der Geist der Erzählerin über dem schäbigen Viertel, wo zwei zauberhafte Mädchen herumstrolchen, um das Haus des ominösen Don Achille, der wie die Spinne im Netz die Fäden im Viertel zieht, bis er eines Tages ermordet wird. In seinem Keller sind die beiden Puppen der Mädchen verschwunden, die sie nun in einer Mutprobe zurückfordern. Vergeblich. Wie zwei Voodoo-Fetische hält der dunkle Abgrund des Rione die Seelen der Kinder, später die der ebenso zauberhaften Frauen, die ab der dritten Folge aus ihnen werden, in seinem Bann.

Wohl hat Costanzo penibel darauf geachtet, das brutale Milieu nicht zu romantisieren. Trotzdem wirken die Straßen und Plätze wie ein künstlich angeschmuddeltes Ferrante-Freilichtmuseum, die Macken und Mängel aufgeschminkt, das Geschrei und Gezeter outriert, die Schlägereien wohlinszeniert. Merkwürdig nur, dass dies der Geschichte nicht wirklich schadet. Die genrehaften Zügen gehören in den Kosmos dieses Erzählens ebenso wie die langsame Entwicklung der Figuren. Beides entfaltet sich in dem von der seriellen Ästhetik eröffneten Raum der Wiederbegegnung, der den Zuschauer einbürgert und vertraut werden lässt mit Abläufen und Routinen – und sei es nur der vor jeder Folge wiederkehrende von minimalistischem Italo-Barock-Sound untermalte Personen-Katalog.

Aus Dekor wird Bedeutung

Ganz anders verläuft der Weg, den die Regisseurin Felicitas Brucker auf der Bühne des Mannheimer Nationaltheaters einschlägt. Er führt nach innen. Statt frisch aufgebügeltem Naturalismus wird das Abwesende beschworen. Lila, die Jugendfreundin der Erzählerin ist verschwunden und hat alle Spuren ihres gescheiterten Lebens getilgt. Eines Lebens, das vielleicht ganz anders hätte verlaufen können, aber gerade in dem, was in ihm nicht zur Erfüllung gelangt, verdient, festgehalten zu werden. Hier nimmt die Geschichte auf den Pfaden der Erinnerung ihren Lauf.

Als selbstbewusste Frau im Hosenanzug führt die zur Schriftstellerin gereifte Lenù durch das Inferno ihrer frühen Jahre. „Ich sehne mich nicht nach unserer Kindheit zurück, sie war voller Gewalt.“ Die Bühne wird zur Rumpelkammer der Vergangenheit, in der in verblüffender Prägnanz die Schlüssel-Szenen heraustreten. Statt Dekor wird hier Bedeutung sinnfällig: die sozialen Konflikte zwischen Neofaschisten, Kommunisten, Camorristen, die Rivalitäten der Freundschaft, der patriarchale Terror, das noch von männlichem Gockeltum dominierte emanzipatorische Denken.

In fließenden Rollenwechseln und –vervielfältigungen und vorangetrieben von der wilden Atemlosigkeit der genialen jungen Schauspielerin Lorena Handschin in der Titelrolle, verdichtet sich die Bildfolge zu einer temporeichen und packenden Theatererzählung, die die lichten Visionen der sie umspielenden italienischen Schlager in ihr düsteres Gegenteil überführt. Auf die geplante Fortsetzung in der nächsten Saison kann man man sich schon freuen.

Alle Wege führen in den Rione. Die Adaptionen ergänzen sich auf ihre eigene Weise und geben den Blick frei auf das Geheimnis von Ferrantes Kunst: Glänzende Oberflächen und ein solider Unterbau.

Info

Der Achtteiler „My brilliant Friend“ ist in Deutschland bei Magenta TV, dem Streamingdienst der Telekom, verfügbar.