Frank Faß hält in seinem Wolfscenters in Dörverden (Kreis Verden) ein Wolfswelpen in der Hand Foto: dpa

Nur wenige sind bereit, ihr Leben umzukrempeln und das Risiko zu scheitern einzugehen.

Stuttgart - Die Sehnsucht nach einem Neuanfang ist groß. Doch für die meisten Menschen bleibt der Wunsch nach einem radikalen Wandel eine Illusion.Nur wenige sind bereit, ihr Leben komplett umzukrempeln und das Risiko zu scheitern einzugehen.

"Wahres Leben bewegt sich stets nach vorn in unbekannte Bereiche." (Wilhelm Reich, Psychoanalytiker)

Aussteigen, ein neues Leben beginnen, von vorn anfangen. Der Traum von Millionen Bundesbürgern. TV-Sendungen wie "Goodbye Deutschland!", "Die Auswanderer" oder "Mein Neues Leben" liegen im Trend und machen Quote mit der Sehnsucht nach dem Neubeginn. Etliche wandern aus, wechseln ihren Job, ihren Partner, ihre Wohnung. Laut einer Forsa-Umfrage spielt jeder fünfte Bundesbürger mit dem Gedanken, das Alte hinter sich zu lassen.

Doch für die meisten bleibt der Wunsch nach dem großen Wandel eine Illusion. Zu groß sind die Beharrungskräfte, zu mächtig die Angst vor dem Scheitern. "Viele träumen von einer Veränderung, aber nur wenige wagen diesen Schritt", sagt der Persönlichkeitspsychologe Peter Borkenau von der Universität Halle. Am Bewährten und Vertrauten festzuhalten vermittle ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit. "Wir sind es gewohnt, ein sicheres Einkommen zu haben und unseren Verpflichtungen nachzukommen", betont Borkenau. "Wenn man all das aufgibt, ist man sehr gefährdet und geht ein großes Risiko ein, weil niemand weiß, was die Zukunft bringen wird."

Dabei gibt es oft gute Gründe, sich neu zu orientieren: Verlust des Jobs, Ende der Partnerschaft, Unzufriedenheit mit dem bisherigen Leben. Psychologen sprechen vom Wendepunkt, an dem man - gewollt oder aufgrund äußerer Umstände - sein Leben in eine andere Richtung lenkt. "In den meisten Fällen liegt eine unstillbare Sehnsucht nach einem Neuanfang vor", erklärt Martin Pinquart, Entwicklungspsychologe an der Universität Marburg. Oftmals werde diese Sehnsucht dadurch ausgelöst, dass sich irgendwo unerwartet eine potenziell neue Option auftut. "Man überlegt, ob man seinen vorhersehbaren, oft als nicht glücklich empfundene Lebensweg weitergehen möchte oder die sich bietende Chance ergreift."

Statt Totalausstieg Urlaub oder Sabbatjahr

In einer solchen Situation nach einem Kompromiss zu suchen liegt nahe. Statt Totalausstieg ein Urlaub oder ein Sabbatjahr. Weit aufregender als das Machbare aber ist das Ungewöhnliche. Was treibt Menschen, sich nach vorn in unbekannte Bereiche zu bewegen, wie der deutsche Psychoanalytiker Wilhelm Reich (1897-1957) sagt? Wir haben außergewöhnliche Aussteiger gefragt:

Millionär wird Mönch

Nach der täglichen Meditation hat Master Han Chan endlich Zeit für ein Telefonat in die alte Heimat. Seinen alten Namen Hermann Ricker und seine frühere Existenz als Unternehmer hat der 59-Jährige lange hinter sich gelassen. Heute lebt er im Nordosten Thailands, wo er das Nava Disa Retreat Center, eine Oase der Mediation und Ruhe, aufgebaut hat.

Im Jahr 1974 ging der damals 23-jährige in Offenbach geborene Ingenieur mit seiner Frau nach Singapur. Während sie schon nach wenigen Monaten nach Deutschland zurückkehrte, gründete Ricker eine Firma, mit der er schließlich einen Jahresumsatz von 33 Millionen Dollar erzielte. Sein Leben war so schnell wie sein Wagen: 1995 prallte er frontal mit einem Lkw zusammen - und überlebte wie durch ein Wunder unverletzt. "Der Unfall war das Beste, was mir im Leben passiert ist. Ich erkannte plötzlich, dass ich viel über die Welt und ihre Geschäfte wusste, aber nichts über mich selbst." Nach einigen Tagen des Nachdenkens beschloss er, sein Vermögen zu verschenken und Bettelmönch zu werden. "Ich wollte die Wahrheit wissen: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Warum ist alles Leben vergänglich? Wir gehen blind durchs Leben, ohne Ahnung zu haben, was in der nächsten Sekunde passiert."

Als Mönch Ophaso lebte er zehn Jahre im Nordosten Thailands, bis er 2005 die Mönchskutte ablegte und seitdem sein Wissen als buddhistischer Meister an andere weitergibt. Auf Vortragsreisen in Europa und in Nava Disa will er Suchenden das Bewusstsein schärfen. "Ich rate jedem, der auf der Suche ist, in sich selbst zu schauen. In uns selbst sind alle Geheimnisse verborgen." Bei ihm habe der Neuanfang große Energien freigesetzt, die im Verborgenen schlummerten. "Heute", sagt Han Shan, "bin ich ein glücklicher Mensch."

Ingenieur wird Zoobesitzer

Frank Faß studierte Luft- und Raumfahrttechnik "mit Leib und Seele". Als er beim Luftfahrt-Konzern Airbus anfing, schien sein Glück perfekt. Doch nach einiger Zeit hatte der 36-Jährige die "Nase voll. Auf das System, das in vielen Großkonzernen herrscht, hatte ich keine Lust mehr." Im Jahr 2005 fuhr er mit Ehefrau Christina (39), einer Industriekauffrau, vier Wochen lang mit dem Wohnmobil durch Kanada. Der Besuch eines Wolfcenters sollte ihr Leben von Grund auf verändern.

Zurück in Deutschland fassten beide einen gewagten Entschluss: Sie wollten die Wolfcenter-Idee auch in Deutschland etablieren. Ende 2009 gaben sie ihre sicheren Jobs auf, verkauften ihr Reihenhaus und nahmen einen hohen Kredit auf. Auf dem ehemaligen Kasernengelände Dörverden in Niedersachsen errichteten sie zwei Tiergehege mit Spielplatz und Streichelzoo. Im April 2010 siedelten die ersten vier Wölfe von der Universität Kiel in Europas erstes und bisher einziges Wolfcenter über.

"Ich mag keine Kompromisse", sagt Faß. "Das sind erzwungene Lösungen, die einem nicht wirklich gefallen. Wir haben eine Lösung gefunden, die uns tausendprozentig gefällt." Der Erfolg gibt ihnen recht. 26.000 Gäste haben das Wolfcenter 2009 besucht. "Was ich vorher gemacht habe, war Job. Das hier ist Leben - mein neues Leben."

TV-Frau wird Herbergsmutter

Angie Sebrich ist eine ungewöhnliche Frau. Beim Musiksender MTV war sie jahrelang die dynamisch-hippe Kommunikationschefin. VIP-Partys, Konferenzen, Dienstreisen nach London, New York und Paris. Ein rasantes Leben. Dann tauschte Sebrich ihr schickes Büro gegen eine biedere Jugendherberge. Wie das?

2001 wurde im Skigebiet Sudelfeld bei Bayrischzell ein neues Leiterpaar für die Herberge gesucht. "Die Idee wurde mir und meinem heutigen Mann im Urlaub angetragen. Völliger Blödsinn, dachte ich", so die 44-Jährige. "Ich hatte richtig Spaß an meinem Job bei MTV. Aber im Unterbewusstsein war ich absolut reif für Neues und nicht mehr bereit für den Trubel, das Chaos, den Medienrummel." Als sie im Urlaub "runterfahren" konnte, wurde ihr schnell klar: "Ich will mehr Lebensqualität, mich mehr erden." Zwar verdient sie heute nur noch ein Drittel dessen, was sie bei MTV bekam. Dafür aber hat sie mit ihren neunjährigen Zwillingen und ihrem Mann ein erfülltes Familienleben. "Man kann sich mit zwei Kindern nicht die Nächte um die Ohren schlagen, dauernd essen gehen, in Boutiquen einkaufen. Meine Prioritäten haben sich komplett verschoben." Ob sie ihr Leben als Herbergsmutter beschließen wolle? Sie lacht. "Vielleicht kommt irgendwann ein Anruf, und ich stehe wieder am Scheideweg."

Herzchirurg wird Lkw-Fahrer

Markus Studers Lebensweg ist ziemlich einmalig. Der 64-jährige Schweizer aus Dübendorf ist seit sieben Jahren stolzer Besitzer eines knallroten Daimler Actros. Mit seinem silberfarbenen Tanklaster fährt er Speiseöl, Orangensaftkonzentrat und Kakaobutter quer durch Europa. Ein Knochenjob - doch nicht für Studer. "Ich wollte schon immer Lastwagen fahren und reisen. Ich habe mir einen Bubentraum erfüllt."

Bis 2003 war Studer Herzchirurg und Leiter eines Züricher Herzzentrums. "Ich wusste schon mit Mitte 40, dass ich auf dem Höhepunkt meiner Karriere aufhören und was ganz anderes machen will." Da er auf Ansehen und Status gut verzichten konnte, sattelte er um. "Ich freue mich am Leben, das ich führe. Ich habe auf der Straße vieles gesehen, was ich sonst nie gesehen hätte. Ich habe diesen Schritt nie bereut."

Ein Jahr lang überlegte der drahtige, braun gebrannte Mediziner seinen Schritt, machte den Lkw-Führerschein, ging bei Truckern in die Lehre. Dann kaufte er vom Ersparten für 100.000 Euro einen fabrikneuen Truck. Bis heute bekomme er Mails und Anrufe vor allem von jüngeren Leuten, die ebenfalls einen neuen Beruf suchten. "Wenn die wirtschaftliche Situation abgesichert ist, kann man das machen. Ansonsten rate ich ab. Das Umsatteln kann schiefgehen." Nicht jeder sei so privilegiert wie er.

Seine Frau werde oft gefragt, wie sie über die ungewöhnliche Karriere ihres Mannes denke. Studer: "Sie sagt dann: Ich habe den Markus geheiratet, nicht den Herzchirurg."