Ein Bild vom „Trauermarsch“ in Chemnitz Foto: dpa

Die Berichte aus Chemnitz und all die hasserfüllten Gesichter in den Nachrichten haben unseren Flüchtlingsreporter bestürzt. Er schildert seine Erfahrungen – es sind ganz andere Erfahrungen.

Stuttgart/Chemnitz - Die Geschehnisse in Chemnitz Anfang September haben in Deutschland ein kleines Beben ausgelöst und eine große Debatte. Rechte haben ihre Chance gewittert und ergriffen: Eine schreckliche Tat wurde instrumentalisiert und galt als Rechtfertigung für die Verbreitung von Hass und Angst. Zu Tausenden zogen sie durch die Straßen und verbreiteten rechtes Gedankengut. Sie erinnerten an eine schlimme deutsche Vergangenheit. Das war keine Demonstration, das war ein Aufmarsch. Rassistische Kommentare wurden wieder einmal rasend schnell in den sozialen Netzwerken verbreitet. Auch ein jüdisches Restaurant wurde attackiert.

Ich verfolgte die Berichte und las die Artikel – Chemnitz war überall. Schockiert haben mich vor allem die hasserfüllten Gesichter und Begriffe wie Apartheid, die vor laufenden Kameras fielen. Dieses Deutschland kenne ich nicht, und dieses Deutschland will ich auch nicht weiter kennenlernen. Ich kenne ein Deutschland, das mich 2014 aufgenommen hat. Ja, ich musste viele bürokratische Hürden meistern. Oft war ich auf Hilfe angewiesen – aber die habe ich bekommen. Ich bin auf offene Arme und aufmunternde Blicke gestoßen und habe Freunde gefunden. Die deutsche Sprache zu lernen war eine Herausforderung. Jetzt bin ich glücklich, sie zu beherrschen und Sätze wie diesen von Goethe zitieren zu können: „Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter…”

Wir sollten nicht zulassen, dass der Hass das Bild von Deutschland bestimmt

Ich persönlich bin hier bisher nie angegriffen oder rassistisch beschimpft worden. In Stuttgart habe ich mich nie unwohl gefühlt. Ich lebe gerne in einer Stadt, in der 40 Prozent der Einwohner Migrationshintergrund haben. Und dennoch: Natürlich gehören rassistische Beleidigungen, brennende Asylunterkünfte und fremdenfeindliche Gewalttaten auch zu Deutschland. Man muss darüber berichten, darüber sprechen und dem etwas entgegenstellen. Aber wir sollten nicht zulassen, dass der Hass das Bild von Deutschland bestimmt. Wir sollten uns bewusst machen, dass Menschen, die hassen oder gewalttätig sind, nicht die Mehrheit darstellen.

Sehen Sie im Video Interviews mit Chemnitzer Bürgern während einer Demonstration:

Laut zu sein bedeutet nicht, Recht zu haben und es bedeutet auch nicht, in der Überzahl zu sein. Rechte Stimmen sind seit einiger Zeit wieder sehr laut. Aber sie repräsentieren das Land nicht. Erst vor Kurzem hat mir Stuttgart gezeigt, wer wirklich in der Mehrheit ist: Auf der Demo „Vielfalt statt Einfalt“ trat eine entspannte, tolerante Gesellschaft rechtem Gedankengut gegenüber. Ja, es hätten mehr Menschen sein können auf dem Karlsplatz, aber dennoch wurde ein Zeichen gesetzt, und deutschlandweit trafen sich sehr viele Gleichgesinnte in jenen Tagen.

Meist sind sie still, die sich einbringen, aber es gibt sie

Darüber sollte öfter berichtet werden: über Menschen, die für eine gerechte und offene Gesellschaft auf die Straßen ziehen. Über Gruppen und Vereine, die seit Jahren ehrenamtlich soziale Arbeit leisten. Über eine Großfamilie, die ein fremdes Kind zu sich nimmt, um ihm eine Zukunft zu schenken. Über die Rentnerin, die ihre Zeit damit verbringt, Jugendlichen Deutsch beizubringen. Ich könnte noch viele andere Beispiele aufzählen, von Menschen, die da sind für Andere. Meist sind sie still und nicht laut. Aber es gibt sie. Und es sind viele hier in Deutschland. In dem Deutschland, das ich kennen- und lieben gelernt habe.