Knackpunkt Medizinertest: An der Universität Heidelberg haben Spitzenabiturienten ohne ein gutes Testergebnis kaum Chancen auf einen Studienplatz Foto: Fotolia

Die Studienplätze für Medizin sind sehr begehrt. Vor allem in Heidelberg. Das Auswahlverfahren der dortigen Universität weist Ungereimtheiten auf. Doch das Wissenschaftsministerium will das nicht glauben.

Die Studienplätze für Medizin sind sehr begehrt. Vor allem in Heidelberg. Das Auswahlverfahren der dortigen Universität weist Ungereimtheiten auf. Doch das Wissenschaftsministerium will das nicht glauben.

Stuttgart/Heidelberg - Manchmal bedarf es eines heftigen Schicksalsschlags, um den Blick fürs Wesentliche zu schärfen. Als im Januar 2009 Ursula S. an Lungenkrebs verstarb, war für ihren Sohn Matthias klar, dass er später einmal Medizin studieren würde. Fortan investierte er mehr Zeit, um Hausaufgaben zu erledigen und auf Prüfungen zu lernen. „Ich wusste, ich brauche einen guten Abi-Schnitt, um mein Ziel zu erreichen“, sagt er heute. Sein großer Aufwand zahlte sich aus, im Sommer 2013 bestand Matthias S. das Abitur mit bravourösen 808 von 900 möglichen Punkten. Das entspricht einem Notenschnitt von 1,1. An mehreren Universitäten hätte das mit hoher Wahrscheinlichkeit gereicht, um einen Humanmedizin-Studienplatz zu bekommen. Matthias S. wollte aber unbedingt nach Heidelberg.

Die Vergabe der Medizin-Studienplätze in Deutschland läuft über die Stiftung für Hochschulzulassung, früher Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS). 20 Prozent aller Plätze werden an die Jahrgangsbesten verteilt – zuletzt war ein Notenschnitt von 1,0 nötig –, 20 Prozent über die Wartezeit vergeben. Damit bleiben 60 Prozent für das interne Auswahlverfahren der Hochschulen. Dessen Gestaltung bleibt jeder Universität selbst überlassen. 18 der bundesweit insgesamt 34 Medizinischen Fakultäten setzen bei ihrem Auswahlverfahren auch auf den Test für medizinische Studiengänge (TMS), umgangssprachlich Medizinertest genannt. Obwohl der Test ein guter Anhaltspunkt für die Eignung des Bewerbers ist, muss die Abiturnote laut der Landesvergabeordnungen aller Bundesländer immer „einen maßgebenden Einfluss“ haben.

Trotz seines sehr guten Abi-Schnitts schaffte es Matthias S. nicht unter die 20 Prozent der Elite seines Jahrgangs. Ohnehin wollte er auf Nummer sicher gehen. Er absolvierte deshalb den Medizinertest und erwischte „einen durchschnittlichen bis schlechten Tag“, wie er selbst sagt. Der Halbwaise holte nur 109 von 130 möglichen Punkten.

Uni Heidelberg siebt mit ihrer Formel alle TMS-Absolventen vorab aus

Die Uni Heidelberg vergibt in ihrem eigenen Auswahlverfahren rund 230 Studienplätze an der Medizinischen Fakultät Heidelberg und noch etwa 130 Studienplätze an der dazugehörenden Medizinischen Fakultät Mannheim. Sie setzt dabei seit Dezember 2012 auf eine exklusive Rangwertformel, die sich aus Abiturnote, dem TMS-Ergebnis und Zusatzqualifikationen wie etwa einem Freiwilligen Sozialen Jahr oder einer Berufsausbildung bildet. In ihrer Satzung für die Zulassung zu den medizinischen Studiengängen in Heidelberg und Mannheim ist verankert, dass das Verhältnis zwischen diesen drei Blöcken 46:44:10 beträgt.

„Auf den ersten Blick sieht die Formel völlig korrekt aus“, sagt Hartmut Hinneberg. Der ehemalige Leiter der Studienberatung an der Universität Ulm hat die medizinischen Auswahlverfahren der Hochschulen miteinander verglichen und ist dabei auf die Heidelberger Mogelpackung gestoßen: „Wenn man genauer hinschaut, sieht man, dass das Gewichtungsverhältnis von Abiturnote zum Medizinertest in Wirklichkeit 30,9 zu 59,1 beträgt.“

Nur wenn ein Bewerber in allen drei Bereichen den Maximalwert erreicht, stimmt das in der Satzung suggerierte Verhältnis – nur, geschafft hat dieses Kunststück noch kein Studienplatzanwärter. Nimmt man realistischere Zahlen, verschiebt sich das Verhältnis gravierend – hin zum Medizinertest. Der Knackpunkt dafür ist, dass die Uni Heidelberg mit ihrer Formel alle TMS-Absolventen vorab aussiebt, die ein Testergebnis unter 100 Punkten erzielt haben. Dieser Kniff hat zur Folge, dass ein Punkt im Medizinertest 20 Zähler im Abitur wettmacht.

Matthias S. erzielte mit seinen 808 Punkten im Abitur und 109 Punkten im Medizinertest einen Rangwert von 52,15. Sein Traum von einem Studienplatz an der ältesten Universität Deutschlands platzte damit. Um in Heidelberg angenommen zu werden, hätte er im Wintersemester 2013/14 einen Rangwert von mindestens 55,59 benötigt. Zum Vergleich: Ein Bewerber, der im Abitur 700 Zähler (Note 1,7) holte und im TMS 120 Punkte einheimste, hätte mit einem Rangwert von 60,00 die Berechtigung zum Medizinstudium in Heidelberg erhalten. „Das habe ich nicht gewusst“, sagt Matthias S., „das finde ich gemein und skandalös, dass der Test so ein Gewicht bekommt.“

Ist Wissenschaftsministerin Theresia Bauer nicht an einer Aufklärung interessiert?

Diplomphysiker Hinneberg rechnet „mit 50 bis 60 Bewerbern pro Semester“, die in den vergangenen Jahren durch die fiese Formel zu Unrecht abgelehnt worden seien. In diesen Tagen kommen womöglich einige Spitzenabiturienten hinzu. Die Bescheide für das sogenannte Nachrückverfahren gehen an diesem Dienstag raus.

Das baden-württembergische Wissenschaftsministerium reagiert auf die Tricksereien an der Ruprecht-Karls-Universität einsilbig. Sprecher Arndt Oschmann verweist auf eine Stellungnahme aus dem August 2013. Darin heißt es: „Das Ministerium geht aufgrund eines Gutachtens der Universität Heidelberg davon aus, dass im Auswahlverfahren für den Studiengang Medizin verglichen mit den übrigen Kriterien die Hochschulzugangsberechtigung mit der höchsten Gewichtung einfließt.“ Nach Recherchen der Stuttgarter Nachrichten existiert allerdings gar kein mathematisches Gutachten. Es handelt sich lediglich um ein internes Arbeitspapier der Uni Heidelberg. Dennoch habe man nicht vor, die Formel selbst zu prüfen, sagte Ministeriumssprecher Oschmann den StN. Ist Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne) nicht an einer Aufklärung interessiert?

Auch die Medizinische Fakultät der Universität Heidelberg ließ sich Zeit, als sie mit dem verschobenen Gewichtungsverhältnis ihrer Rangwertformel konfrontiert wurde. Die Antwort auf unsere Anfrage verzögerte sich um mehr als eine Woche – nach Mitteilung einer Fakultätssprecherin „aus Kapazitätsgründen in den zuständigen Abteilungen“. Oder hat sich die Uni – mit Blick auf den Kalender – bewusst Zeit gelassen, um das Nachrückverfahren ohne öffentliche Störfeuer über die Bühne zu bringen?

Dabei stellt sich grundsätzlich die Frage: Ist es nicht sogar richtig von der Universität Heidelberg, eher durchschnittlichen Abiturienten mit einem sehr guten Medizinertest eine Chance zu geben? Schließlich muss ein sehr guter Abiturient noch lange kein guter Arzt werden. Und umgekehrt. Das Vorgehen der Uni am Rande des gesetzlichen Limits wirft jedenfalls kein gutes Licht auf eine der renommiertesten deutschen Hochschulen.

Uni Heidelberg als Vorbild?

Die Universität Heidelberg jedenfalls macht keinen Hehl daraus, dass sie mit ihrer einmaligen Formel auch Studierenden eine Chance gibt, „die nicht zu den Abiturspezialisten gehören“. Seit 2009, seit der Medizinertest beim hochschuleigenen Auswahlverfahren (AdH) berücksichtigt werde, habe sich die Lernleistung im Vergleich zu vorhergehenden Jahrgängen „deutlich verbessert“, heißt es in einer Mitteilung. Der Erfolg scheint der Ruprecht-Karls-Uni recht zu geben: Der Anteil der Studienabbrecher im Fach Humanmedizin konnte nach Hochschulangaben bereits gesenkt werden. „Welche Schlüsse aus diesen Ergebnissen seitens der landespolitisch Verantwortlichen gezogen werden, können wir nicht beurteilen“, sagte Universitätssprecher Oliver Fink unserer Zeitung.

Könnte womöglich das Heidelberger Modell sogar Vorbild für die Universitäten in Tübingen, Freiburg oder Ulm sein? Um außerschulischen Leistungen wie dem Medizinertest oder einer Berufsausbildung mehr Gewicht zu verleihen, müsste der gesetzliche Rahmen gelockert werden. Das wird bis auf weiteres aber nicht geschehen. Das Wissenschaftsministerium teilte lapidar mit, Ministerin Bauer sehe „derzeit keinen Handlungsbedarf“.

Matthias S. ist zwar „enttäuscht von Heidelberg“, doch er wird darüber hinwegkommen. Er hat einen Studienplatz an der Universität Saarland in Homburg bekommen – und damit alle Möglichkeiten, seinen Traum vom Arztberuf doch noch zu verwirklichen.