Experten raten dringend zur Patientenverfügung. Foto: dpa

Ärzte haften nicht, wenn sie das Leiden ihres Patienten durch künstliche Ernährung verlängern. Das hat der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden. Der Medizinrechtler Wolfgang Putz, der das Verfahren vorangetrieben hatte, äußert sich zu möglichen Folgen des Urteils.

Stuttgart - Am Dienstag haben die obersten Zivilrichter des Bundesgerichtshofs (BGH) in einem bisher beispiellosen Schadenersatz-Prozess ein Urteil gefällt. Ärzte müssen demnach kein Schmerzensgeld zahlen, wenn sie den Tod eines Patienten durch lebenserhaltende Maßnahmen hinauszögern und damit dessen Leiden künstlich verlängern. Bei der Begründung heißt es, dass gleichgültig, mit viel Leid ein Leben verbunden ist, „das Urteil über den Wert eines Lebens steht keinem Dritten zu“, so die Senatsvorsitzende Vera von Pentz bei der Urteilsverkündung in Karlsruhe. Rechtsanwalt Wolfgang Putz äußert sich zu dem Urteil.

Herr Putz, der BGH bezeichnet das menschliche Leben als „höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig“. Das wirft Fragen auf im Zusammenhang mit Behandlungen am Lebensende, die medizinisch nicht mehr indiziert und ethisch zweifelhaft sein können. Wie im Fall zu Lasten des verstorbenen Patienten, der keine Patientenverfügung hatte und dessen Sohn Sie vertreten. Hat die Entscheidung Sie in dieser Zuspitzung erstaunt?

Ja, ich war sehr erstaunt und bin es immer noch. Der Satz ist aus meiner Sicht absolut unhaltbar. Wenn man ihn wörtlich nimmt, dann wirft er uns 30 Jahre zurück in eine Zeit, in der alles, was medizinisch-technisch möglich war am Patienten, auch getan werden musste. Heute gilt in der Medizinethik das Wohl des Patienten als höchstes Gut, und es ist allgemein anerkannt, dass lebenserhaltende Maßnahmen dem Patientenwohl zuwiderlaufen können.

Wie erklären Sie sich dann das Urteil?

Der BGH hat etwas sehr Seltsames gemacht. Er hat die Frage, ob eine medizinisch nicht mehr indizierte Behandlung zu einem Schaden führen kann, dahingehend beantwortet, dass selbst eine staatliche Prüfinstanz wie der BGH eine solche Bewertung nicht vornehmen kann, weil das Leben an sich nicht bewertet werden kann. Wäre dem so, dürfte es der Arzt aber konsequenterweise auch nicht. Meines Erachtens verkennen die Richter vollkommen, dass der Arzt natürlich eine Lebensbewertung vornehmen muss. Sonst kann er ja nicht entscheiden, ob ein künstlich erzeugtes Weiterleben etwa durch künstliche Ernährung oder Beatmung dem Wohl des Patienten dient oder nicht. Alle medizinischen Leitlinien verlangen das.

Was bedeutet das für das Medizinrecht?

Ich verstehe das Urteil so, dass der Arzt zwar eine Bewertung vornehmen, dass aber das Ergebnis dieser Bewertung nicht zu einer gerichtlichen Überprüfung mit Haftung führen darf. Mit anderen Worten: Jemand hat Verantwortung, kann aber nicht zur Verantwortung gezogen werden. Für mich ist das ein Novum im deutschen Rechtsleben. Wir warten jetzt das schriftliche Urteil ab und behalten uns weitere Schritte vor.

Lag dem BGH nicht ein sehr spezieller zivilrechtlicher Fall vor? Es ging darum, ob ein Arzt für ein zu langes Leiden infolge einer zu langen künstlichen Ernährung Schadenersatz für die Behandlungskosten und Schmerzensgeld an den Patienten respektive seine Erben zahlen muss. Das Gericht war gezwungen, Leben zu bewerten, quais ein Preisschild daran zu kleben nach dem Motto: je qualvoller, desto teurer wird’s im Haftungsfall.

Entschuldigung, aber genau das tun wir in der deutschen Justiz täglich. Denken Sie an die Regulierung von Geburtsschäden. Da muss der Arzt dem Kind Schmerzensgeld zahlen und Geld ersetzen, was dieses geschädigte Leben kostet. Der BGH stellt die gesamte Schadensrechtsprechung auf den Kopf. Das ist fast schon grotesk.

Schwächt das Urteil die Position von Patienten, die am Lebensende nicht um jeden Preis behandelt werden möchten?

Ja, und zwar dann, wenn sie keine Patientenverfügung haben. Für mich war die Verfügung immer ein Weg, eine an sich gute Medizin aus eigener Wertvorstellung abzulehnen. Nach dem Urteil kann ich das nicht mehr so sehen. Für mich ist es jetzt geradezu zwingend, dass jeder Deutsche eine Patientenverfügung macht, um sich gegen schlechte Medizin zu schützen. Insofern stärkt das Urteil die Verfügungen. Das kann man positiv sehen. Trotzdem geht von der Entscheidung ein falsches Signal aus: Hauptsache der Patient lebt, dann kann der Arzt ruhig schlafen. Selbst ein Verstoß gegen die Patientenverfügung führt nach Auffassung des BGH nicht zu einer Haftung des Arztes.

So bleibt nur das Strafrecht, ihn zu belangen?

Ja, die Drohung, das Wohl des Patienten unbedingt zu beachten, wird ins Strafrecht verschoben. Dort kann eine medizinisch nicht mehr indizierte Magensonde zur künstlichen Ernährung als Körperverletzung eingestuft werden. Allerdings ist das Strafrecht für mich als Medizinrechtler und -ethiker die falsche Ebene. Mediziner sollten nicht unter dem Strafrecht arbeiten müssen. Aber nun bleibt kein anderes Druckmittel übrig. Der Arzt im vorliegenden Verfahren hat gesagt, ich habe noch nie jemanden sterben lassen, und ich werde auch diesen Patienten nicht sterben lassen.

Ärzte könnten sich auf das Urteil berufen, gesetzliche Betreuer ebenfalls. Letztere könnten sogar ein finanzielles Interesse daran haben, dass ihre siechen Klienten weiterleben müssen, Pflegeheime auch. Sind solche Befürchtungen aus Ihrer Sicht begründet?

Der gesetzliche Betreuer ist nicht das Problem, der verdient zu wenig. An der Lebensverlängerung um jeden Preis verdienen die Pflegeheime, darunter vor allem die, die künstliche Beatmung anbieten. Das bringt 25 000 Euro im Monat pro Patient. Ein Ziel unserer Klage war es, das Geschäftsmodell dieser Heime anzugreifen. Wenn die Häuser Gefahr liefen, für die enormen Behandlungskosten haften zu müssen, die durch sinnlos verlängertes Leiden entstehen, würde das Modell zusammenbrechen.

Worauf müssen Patienten jetzt achten, die nicht nicht gegen ihren Willen behandelt werden wollen? Müssen Verfügungen nach dem jüngsten BGH-Urteil angepasst werden?

Es gibt viele Muster für Patientenverfügungen, darunter leider auch sehr viele schlechte. Auf der sicheren Seite ist man, wenn man sich an Vorlagen etwa der Justizministerien hält. Daran ändert das BGH-Urteil nichts.