Ärzte in der Indus­trie: Pharma- und andere sogenannte Life-Science-Unternehmen beschäftigen gern Mediziner mit Facharztausbildung. Foto: dpa

Aus Frust am Klinikalltag sollte kein Mediziner in die Industrie wechseln, sondern aus Interesse und nach der Facharztausbildung.

Arzt zu sein, ist mehr Berufung als Beruf. Ansonsten würde sich kein Mensch den stressigen Job in einer Klinik antun. Dr. med. Jens Schröder, 43, war ein solcher Überzeugungstäter. Alternativen sah er keine. 'Mediziner hatten zur Zeit meiner Ausbildung massive Vorbehalte gegen einen Job in der Industrie.' Sie war als Auffangbecken für gescheiterte Klinik-Existenzen verschrien. Schröder hatte nach seinem Studium eine Facharztausbildung in Neurochirurgie angefangen. Während dieser Zeit nahm er ein Sabbatical, um sich in einem Forschungsinstitut mit Biochemie zu beschäftigen.

Schröder fand Interesse an einer Tätigkeit fernab vom OP-Tisch, operierte dennoch weiter und absolvierte parallel ein Molekularbiologiestudium. Mit diesem Abschluss und der abgeschlossenen Facharztausbildung stellte er sich ernsthaft die Frage, 'ob man als Mediziner auch in der Industrie seine Berufung finden kann?'. Kann man: 'Ich bin sehr zufrieden, und meine ehemaligen Kollegen beneiden mich inzwischen.' Auf einer Karriere-Messe für Mediziner führte Schröder Gespräche mit Vertretern von Pharma- und Medizintechnik-Unternehmen. Seine Lebensläufe gingen weg wie warme Semmeln - und er vom Krankenhaus. In einem Medizintechnik-Unternehmen bestand sein Job darin, neue Produkte mit zu entwickeln oder Neuentwicklungen aus Sicht des Mediziners zu bewerten.

"Heute profitieren Tausende von meiner Arbeit"

'Das ist ganz typisch für Ärzte in der Industrie: sie vertreten die medizinische Perspektive.' Nach vier Jahren, 2007, wechselte er zum Pharmakonzern Bayer in Berlin. Nun ist es sein Job, an neuen Medikamenten gegen die Bluterkrankheit zu forschen, die Wirksamkeit bestehender Präparate zu verbessern und mögliche Nebenwirkungen zu reduzieren. 'In der Klinik habe ich 20 Patienten auf der Station versorgt, heute profitieren Tausende von meiner Arbeit.' Dieses Argument der Massenheilung hört man bei Industrie-Medizinern häufig. Bayer beschäftigt in Deutschland 410 Mediziner, davon sind 106 Veterinärmediziner. Sie arbeiten in der Bayer-Pharma-Sparte in Forschung und Entwicklung, Projektmanagement, Zulassung und Vermarktung neuer Wirkstoffe.

Die Leitung eines internationalen Projektteams für klinische Studien oder die Verantwortung für globale Markteinführungskampagnen sind typische Aufgaben. Besonders interessiert ist Bayer an Ärzten mit Doppelqualifikation wie Medizin und Biologie, Chemie oder MBA. Der Chirurg Professor Dr. med. Moritz Wente, 40, hat vor gut drei Jahren von der Klinik in das Medizintechnik-Unternehmen Aesculap in Tuttlingen gewechselt. Nach seinem Medizinstudium forschte er zwei Jahre im Labor an einem Institut in den USA, arbeitete nach seiner Facharztausbildung als Chirurg und absolvierte berufsbegleitend ein Masterstudium für klinische Studien in Rotterdam. 'In der Klinik und durch das Zusatzstudium fand ich Interesse an der klinischen Forschung.'

Aesculap beschäftigt rund 300 Mitarbeiter

Nach der Habilitation wechselte Wente in die Industrie. Die Industrie braucht Brückenbauer wie Wente, die beide Welten verstehen und zwischen ihnen vermitteln können. Bei Aesculap leitet er die Abteilung Medizinische Wissenschaft. 'Wir planen und führen klinische Studien für unsere Produkte durch.' Dazu gehören Implantate für Wirbelsäulenchirurgie, Knie- und Hüftprothesen. Aesculap ist eine Tochter von B. Braun, Melsungen. Weltweit beschäftigt das Medizintechnik-Unternehmen etwa 300 Mediziner, einige in Funktionen wie Wente, andere in Vertrieb und Marketing sowie in Dialysezentren. Der Professor rät Kollegen, nie aus Frust, sondern nur aus Interesse und Neugier in die Industrie zu wechseln. Und auch nie zu früh. Am besten erst nach der Facharztausbildung.

'Dieses spezielle Wissen ist der Mehrwert für die Industrie, in der wir nun einmal Seiteneinsteiger sind.' Als Facharzt habe man einige Jahre in der Klinik gearbeitet und wisse, wie der Laden läuft. Zudem sei man Experte in einer Disziplin. Diese Kombination macht Mediziner für die Industrie so interessant. 'Die Chancen für Ärzte in der Industrie sind sehr gut', sagt Ramona Schleuder. Sie leitet den Geschäftsbereich Life Science der DIS AG in München für Bayern. Das Unternehmen sucht im Kundenauftrag Mitarbeiter für Life Science. Die Kunden sind Pharma-, Biotechnologie- Medizintechnik- und Diagnostikunternehmen. Ärzte werden in allen medizinischen Fragestellungen in Life Science gebraucht. Dazu gehören auch Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Beides ist auf Prävention ausgerichtet.

Etwa 10 000 Arbeitsmediziner gibt es in Deutschland. 'Große Unternehmen haben eigene Betriebsärzte, mittelgroße teilweise auch. Wenn überhaupt, dann leisten sich die meisten überbetriebliche arbeitsmedizinische Dienste, und wieder andere gehen zu niedergelassenen Arbeitsmedizinern', sagt Prof. Dr. med. Hans Martin Hasselhorn. Er leitet an der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin den Fachbereich Arbeit und Gesundheit. Etwa 15 Mediziner arbeiten dort.