„Richard III.“ im Alten Schauspielhaus in Stuttgart: Als flüsternde Natter beherrscht Max Tidof in der Titelrolle das sonst recht zähe Spiel.
Stuttgart - Mit der Lautsprecherdurchsage, die Zuschauer mögen spätestens jetzt ihre Mobiltelefone ausschalten, beginnen heute viele Theaterabende. In Manfred Langners Inszenierung von William Shakespeares Schurkenstück „Richard III.“, die jetzt im Alten Schauspielhaus in Stuttgart Premiere hatte und sogar den Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann samt Frau anlockte, mündet der wortreich ausgeschmückte Appell jedoch in einen Prolog. Begleitet von einem Zusammenschnitt aus Videobildern stammt dieser nicht aus der Feder des britischen Dramatikers, der sich vor mehr als vierhundert Jahren mit den Rosenkriegen zwischen den Herrscherhäusern York und Lancaster befasste, sondern vom regieführenden Intendanten der Stuttgarter Schauspielbühnen. Langner stimmt das Publikum auf eine unwirtliche Zukunft ein. Totaler Stromausfall! Mit der modernen Technik versagt die Zivilisation, alle sozialen Systeme brechen ein. „Wir sind nur einen Wimpernschlag davon entfernt, ins Mittelalter zurückzufallen“ ist zu hören – und schon ist es passiert.
Auch wenn das Hintergrundbild Strommasten mit gekappter Leitung zeigt und die Dystopie bis zum Schluss gegenwärtig hält, mutet die Szene also mittelalterlich an. Unter abblätterndem Putz zeigt sich grobes Mauerwerk, Königin Elizabeth steckt samt königsblauem Gewand in einer Lederkorsage, und der Bösewicht Richard von Gloucester wirkt mit weiter Lederhose, Pelzüberwurf und Schulterprotektoren wie ein Zwitter aus Jack Sparrow aus „Fluch der Karibik“ und einem Winterfell-Bewohner aus dem Fantasy-Epos „Game of Thrones“.
Darstellerisches Unvermögen?
Die Botschaft: Fortschritt ist nur eine Illusion. Der Mensch ist des Menschen Wolf, egal in welcher Epoche. Der aus Film und Fernsehen bekannte Max Tidof, der in Stuttgart unter Langner schon in „Auf und davon“ und als Picasso auftrat, verkörpert dieses Biest im Mann mit gehauchtem, teilweise schwer verständlichem Flüsterton, begleitet von zynischem Lächeln und agilem Ganzkörpereinsatz. Und doch verbreitet der Fiesling mit Grips und scharfer Zunge bei seinen Mitspielern kaum Angst und Schrecken. Die Kollegen reagieren auf seine bösen Ränkespiele so passiv, als seien sie bloße Staffage. Einzig Gideon Rapp, der den als anfangs sadistisch aufgelegten, dann von Gewissensbissen geplagten Buckingham mimt und daneben einprägsame Blitzauftritte hat, beherrscht das Timing eines lebendigen Miteinanders und bietet dem Titeldarsteller ein ebenbürtiges Gegenüber.
Vorstellbar ist, dass Manfred Langner die Agonie der übrigen Figuren als Hinweis darauf nutzen wollte, wie leicht sich das Böse durchsetzt, wenn es nur genügend Raum zur freien Entfaltung hat. Doch viele Szenen geraten unter seiner Regie so zäh und hölzern, dass hier eher mangelnde Figurenführung, wenn nicht darstellerisches Unvermögen der Grund zu sein scheint. Das gilt nicht nur für die meisten männlichen Nebenrollen, sondern leider auch für die zentralen Frauenfiguren, deren immenses Leid keinen Ausdruck findet.
Wenn etwa Anne (Kim Zarah Langner) bei der Grablegung ihres Schwiegervaters den Avancen seines Mörders zwar Widerworte und Spucke, aber kaum innere Regung entgegensetzt, wenn sie gelangweilt-nervös Fingernägel kaut, während sie vom Tod ihres Mannes erfährt und Richards Ring beiläufig akzeptiert, verliert dieser bipolare Schlagabtausch seine Brisanz.
Grausige Botschaften, die keine Spuren hinterlassen
Als prophetische Margret hat sich Kim Zarah Langner in voller Hexenmontur durchs Bild zu schleppen. Eine Zahnprothese verändert ihre Aussprache. Die Zeiten, als das Kostüm die Verwandlung bestimmte, sollten auf der Theaterbühne eigentlich vorbei sein. Mit diesem überkommenen Klischee landet man weder in der Gegenwart und erst recht nicht in der Zukunft. Auch an Stephanie von Borckes allzu statischer Elizabeth gehen die grausigen Botschaften nahezu spurlos vorbei. Dabei hat ihre Figur Gattenmord, den Raub ihrer Söhne und schließlich deren Ermordung zu erleiden. Erst wenn von Borckes genügend Text hat, sich in Rage zu reden, findet sie in ihre Rolle.
Manfred Langners letzte eigene Regiearbeit als Intendant der Schauspielbühnen Stuttgart setzt viel zu sehr auf die charismatische Präsenz des Hauptdarstellers. Doch damit erhält Max Tidof nicht die Plattform, die er eigentlich verdient hätte. Und Langner, der im Alten Schauspielhaus und in der Komödie im Marquardt seit neun Jahren ein Programm macht, das immer auch die gesellschaftspolitische Gegenwart spiegelt, gelingt es mit „Richard III.“ nicht, diesen Anspruch einzulösen. Auch wenn der Prolog einen solchen Ansatz behauptet und sich aktuell genügend machthungrige Egozentriker um die Vorherrschaft auf der weltpolitischen Bühne streiten: Letztlich setzt er Shakespeares Königsdrama konventionell in Szene. Noch gravierender aber ist, dass seine Regie die Psychologie der Figuren aus dem Blick verliert.