Müllberg in Neapel Foto: ANSA

Müll auf den Gehwegen oder Schmierereien an den Hauswänden können zu Kriminalität verleiten.

Stuttgart - Herumliegender Müll auf den Gehwegen, Schmierereien an den Hauswänden oder ein zerbrochenes Fenster können zum weitreichenden Verfall sozialer Normen führen, haben Forscher festgestellt.

"Ich lege großen Wert darauf, dass die Bootshalle ordentlich ist und sich darin nur Dinge befinden, die da hingehören", betont der Bootswart des Bonner Ruder-Vereins. Dennoch haben Mitglieder unter anderem in der Halle gelagert: einen Satz Winterreifen, ausrangierte Gartenmöbel, ein Hoch-Doppelbett, eine Kiste mit Porzellantellern und diverse Fitnessgeräte. "Wenn man das einmal zulässt, kommt sofort alles mögliche Zeug dazu", weiß der Bootswart.

Damit ist er Anhänger der Broken-Windows-Theorie. Dieses Schlagwort prägten 1982 der amerikanische Politologe James Wilson und der Kriminologe George Kelling. Es besagt, dass ein zerbrochenes Fenster in einem leerstehenden Haus rasch weitere Zerstörung nach sich zieht oder dass Müll und Unordnung Chaos anziehen. "Ein nicht repariertes zerbrochenes Fenster ist ein Signal dafür, dass sich niemand kümmert, so dass der Eindruck entsteht, dass man weitere Fenster ungestraft kaputt machen kann." Würden solche Missstände nicht umgehend beseitigt, käme es zur Verwahrlosung ganzer Stadtviertel.

Sozial stabile Nachbarschaft geht verloren

Diese Zeichen fehlender sozialer Kontrolle ziehe Kriminalität an, was die Bürger verängstige und dann aus der Gegend vertreibe. Dadurch geht die sozial stabile Nachbarschaft verloren, und die Kontrolle wird wiederum gemindert.

Dieser Effekt des zerbrochenen Fensters war nicht unumstritten, wurde aber zuletzt mehrfach belegt. So untersuchte der Wirtschaftspsychologe Michael Kurschilgen vom Bonner Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeingütern den Einfluss der Erwartung auf das eigene Verhalten: Er ließ rund 60 Versuchspersonen in London und in Bonn jeweils in Vierergruppen spielen. Jeder der Gruppe bekam ein Ausgangskapital von 20 Talern. Die Spielregeln waren so, dass das Zusammenlegen in einen Topf belohnt wurde, am Ende alle profitierten und jeder 32 Taler besaß. Verhielt sich ein Mitspieler egoistisch, konnte er 44 Taler gewinnen, während die anderen Verluste einfuhren. "Wer andere für Egoisten hält, handelt auch selbst meist egoistisch", fasst Kurschilgen die Ergebnisse zusammen.

Überraschend war, dass in Bonn 82 Prozent in die Gruppenkasse einzahlten und in London nur 43. "Die Londoner sind anscheinend wesentlich misstrauischer", kommentiert Kurschilgen. "Als wir in einer zweiten Runde die Bonner vorab über das Londoner Ergebnis informierten, sank auch dort die Kooperation drastisch." Kurschilgens Rat an die Politik lautet nun: "Wenn sie nicht dafür sorgt, dass zerbrochene Fenster - im wörtlichen wie im übertragenen Sinne - zügig repariert werden, könnte ein Teufelskreis beginnen."

Offensichtliche Verletzung sozialer Normen

Welche Folgen die offensichtliche Verletzung sozialer Normen hat, hat das Team um Siegwart Lindenberg, Sozialforscher an der Universität Groningen, genauer untersucht. An einem Fahrradparkplatz in einer Einkaufsstraße entfernten die Forscher alle Papierkörbe und klemmten an jeden Fahrradlenker einen Werbegruß eines nicht existierenden Sportgeschäfts. Im ersten Durchlauf war eine Fassade mit einem Graffiti-Verbotsschild versehen und sauber, im zweiten war dieselbe Wand mit Graffiti übersät. In beiden Szenarien mit jeweils 77 Personen wurde festgehalten, ob diese den Werbezettel einsteckten, um ihn später zu entsorgen, oder ob sie ihn achtlos fallen ließen und so die Norm verletzten, keinen Müll auf die Straße zu werfen. Das Ergebnis: War die Wand mit Graffiti beschmiert, warfen mehr als doppelt so viele Fahrradbesitzer den Zettel auf den Boden, nämlich 69 Prozent, als vor der sauberen Wand mit 33 Prozent.

In einem weiteren Versuch versperrte Lindenberg den Zugang zu einem Parkplatz mit einem mobilen Gitter, das nur einen schmalen Durchschlupf ließ, und hängte daneben die Schilder "Durchgang verboten" und "Fahrräder anschließen verboten". Die Alternative für die 93 Versuchspersonen, zu ihrem Auto zu gelangen, war ein 200 Meter entfernter Nebeneingang. Waren nun Fahrräder an die Absperrung gekettet, quetschten sich 82 Prozent der Menschen trotz Verbot durch die Lücke, waren keine Fahrräder vorhanden, nur 27 Prozent.

"Bitte Einkaufswagen zurückbringen"

Auf einem Supermarkt-Parkplatz brachten die Forscher ein gut sichtbares Schild an mit der Aufschrift "Bitte Einkaufswagen zurückbringen" und klemmten wieder einen Werbeflyer unter den Scheibenwischer. Standen trotz der Bitte Einkaufswagen auf dem Platz herum, warf über die Hälfte der Autobesitzer den Zettel auf den Boden, ohne Wagen weniger als ein Drittel.

Nun interessierte die Wissenschaftler, ob Unordnung auch zu kriminellem Verhalten verleitet. Dafür steckten sie einen Umschlag mit einem im Sichtfenster deutlich sichtbaren Fünf-Euro-Schein zur Hälfte in den Schlitz eines Briefkastens. Passanten konnten den Umschlag einfach mitgehen lassen. War der Kasten mit Graffiti besprüht oder lag Müll herum, klaute jeder Vierte den Umschlag, in ordentlicher Umgebung nur jeder Achte.

Der Ulmer Hirnforscher Manfred Spitzer weist darauf hin, dass man die Forschungsergebnisse auch von der anderen Seite betrachten kann - und verweist auf das Beispiel eines Direktors an einer privaten Schule, der viel in die schicke Ausstattung der Räume investiert hat. "Es sieht dort aus wie in einer Bank oder einer noblen Firma. Entsprechend hat er mit Schmierereien und Sachbeschädigung praktisch keine Sorgen. Es traut sich niemand, die schönen Räume zu zerstören."