Mit der „Schutzranzen“-App können Eltern ihre Kinder orten. Kritiker sprechen von einer neuen Stufe der Totalüberwachung. Foto: dpa

Ludwigsburg plant mit einem Unternehmen das Pilotprojekt „Schutzranzen“: Eine App und ein GPS-Sender sollen Kinder vor Unfällen bewahren. Aus ganz Deutschland hagelt es Kritik. Das Rathaus denkt aber bereits in viel größeren Dimensionen.

Ludwigsburg - Selbstfahrende Busse, Parksensoren, intelligente Ampeln: Wann immer es darum geht, Zukunftsprojekte zu testen oder auf den Weg zu bringen, ist Ludwigsburg vorne mit dabei. Der Oberbürgermeister Werner Spec lässt keine Gelegenheit aus, seine Stadt als besonders innovativ und kreativ ins Rampenlicht zu rücken. Im diesem hellen Licht steht sie gerade wieder, aber diesmal ist vieles anders, vor allem: Es gibt Widerstand.

Das Rathaus will gemeinsam mit dem bayerischen Unternehmen Coodriver eine neue App auf den Markt bringen. „Schutzranzen“ soll sie heißen und Kinder im Straßenverkehr vor Unfällen bewahren. Die App auf dem Smartphone und ein kleiner GPS-Sender im Schulranzen erfassen dazu die Position des Kindes. Kommt ein Autofahrer ihm gefährlich nahe, erhält er eine Warnung über sein eigenes Telefon, visuell und akustisch: „Achtung Kinder“ oder auch „Achtung Schule“, wenn er in die Nähe eines Schulgebäudes fährt. Außerdem sollen Eltern ihren Nachwuchs über den GPS-Sender orten können. „Wir wollen als erste Stadt in Deutschland eine flächendeckende Verbreitung der ‚Schutzranzen’-App erreichen“, sagt Spec.

Einen Starttermin gibt es nicht, aber lange dauern wird es wohl nicht mehr. Technisch sei man so weit, sagt Heinz Handtrack, der als Leiter des Referats für Nachhaltige Stadtentwicklung für das Projekt zuständig ist. „Wir müssen die offenen Fragen klären, dann könnte es losgehen.“

Datenschützer warnen vor der Totalüberwachung der Kinder

Die offenen Fragen klären heißt: die Kritiker besänftigen. Seit die Deutsche Presse-Agentur über die „Schutzranzen“-App berichtete, schlagen Verbände und Datenschützer Alarm. „Wenn Eltern jederzeit per Knopfdruck die Position ihrer Kinder erfahren können, stellt das eine Totalüberwachung dar“, sagt die niedersächsische Datenschutzbeauftragte Barbara Thiel. Der Verband Bildung und Erziehung warnt davor, „sich trügerischen Sicherheiten im Tausch von Daten hinzugeben“.

Der Bielefelder Verein Digitalcourage spricht von einer neuen Stufe der Kinderüberwachung. „Wenn man das zu Ende denkt, müsste man jeden Fahrer, jedes Kind mit der App ausstatten, das ist utopisch“, sagt eine Sprecherin. Zudem beklagen die Datenschützer mangelnde Transparenz – Daten gingen über die Server etwa an Google, Amazon und Microsoft.

Walter Hildebrandt, der Chef von Coodriver, kann die Aufregung nicht nachvollziehen. „Wir wollen keine Daten verkaufen und speichern sie auch nicht“, erwidert er. Alles werde verschlüsselt. „Kein Autofahrer bekommt die exakte Position eines Kindes.“ Die App zeige lediglich Sektionen mit einem Radius von 150 Metern an, in der sich Kinder aufhalten.

Auch die Stadt weist den Vorwurf der Totalüberwachung empört zurück. „Nicht substanziell“ sei die vorgebrachte Kritik, sagt Handtrack. Es sei ausschließlich Eltern vorbehalten, mit der App den Standort ihres Kindes abzurufen, niemand sonst bekomme diese Möglichkeit. „Es ist also immer die Entscheidung der Eltern und Kinder, ob sie die Funktion nutzen wollen – das muss jeder für sich selbst entscheiden.“

Die App soll ein wichtiger Baustein bei der Entwicklung selbst fahrender Autos werden

Gedacht ist die „Schutzranzen“-App für Kinder im Schulalter. Wenn diese erstmals alleine zur Schule gehen, wenn sie nicht rechtzeitig nach Hause zurückkehren, nicht erreichbar oder länger als angekündigt mit Freunden unterwegs sind: Handtrack fallen viele Situationen ein, in denen die Nutzung eines solchen Trackers sinnvoll sein könnte. „Es geht einfach nur darum, Eltern in kritischen Situationen ein Hilfsmittel an die Hand zu geben.“ Bei einem Runden Tisch mit Elternbeiräten, Datenschützern, Vertretern von ADAC, Polizei und Verkehrswacht will die Stadt nun die Befürchtungen ausräumen.

In Wolfsburg ist das offenbar nicht gelungen. Auch dort war ein Praxis-Test mit der „Schutzranzen“-App geplant, doch inzwischen ist die Stadt zurückgerudert. Es gebe noch Klärungs- und Kommunikationsbedarf. In Ludwigsburg indes sieht man das Vorhaben längst in einem viel größeren Kontext. Am Anfang, so Handtrack, gehe es erst einmal darum, Erfahrungen zu sammeln. In der Testphase sei also nicht entscheidend, dass die App flächendeckend verbreitet ist.

Sollte sich die Technik aber bewähren, könne daraus ein wichtiger Baustein bei der Entwicklung selbst fahrender Autos werden, glaubt Handtrack. „Das automatisierte Fahren wird kommen, und eine bedeutende Frage dabei ist, wie die dafür benötigten Daten in die Fahrzeuge gelangen.“ Er halte es für realistisch, dass irgendwann in jedem neuen Auto eine „Schutzranzen“-App integriert ist, ohne dass der Besitzer diese herunterladen muss. „Wenn es damit gelingt, Unfälle zu verhindern, dann muss ich sagen: Herz, was willst Du mehr.“