Beliebtes Fotomotiv: Schloss Neuschwanstein in Bayern. Foto: dpa

Die Reisebranche erfreut das neunte Rekordjahr in Folge. Auf der Messe CMT in Stuttgart wird diskutiert, ob es schon zu viele Besucher sind.

Stuttgart - Eckernförde ist ein schmuckes Ostseebad, nördlich von Kiel an der gleichnamigen Bucht gelegen. Bekannt für seine goldgeräucherte Fischspezialität, die „Kieler Sprotten“. Früher gab es viele Räuchereien und fischverarbeitende Betriebe, inzwischen ist der Tourismus ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in dem 23 000 Einwohner starken Ort, der Jahr für Jahr mehr Besucher verzeichnet. Mit rund 72 000 Gästen jährlich sind es mehr als doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Für manchen Bürger schon zu viele. In Leserbriefen an die Lokalzeitung machten sie ihrem Ärger Luft: die Urlauber verstopften die Straßen und verursachten Parkplatznot.

Heidelberg zählt zu den Top-Destinationen

„No Rivercruise Tourists“ – das konnte man vergangenen Sommer bei einem Heidelberger Wirt lesen, der genug hatte von den eiligen Flusskreuzfahrtgästen, die in sein Burgerlokal einfielen und binnen Minuten ihr Essen auf den Tisch wollten, weil ihr enger Zeitplan ein längeres Verweilen nicht möglich machte. Die Neckarstadt gehört seit Jahrzehnten zu den Top-Destinationen in Deutschland, steht bei Asiaten und Amerikanern ganz oben auf der Liste der Sehenswürdigkeiten. Die jährlich elf Millionen Besucher zieht es vor allem in das Schloss und die gerade mal 10 000 Einwohner zählende Altstadt. Auf einen Bürger kommen dort etwa 1100 Urlauber, ein einzigartiges Verhältnis, das es noch nicht mal in Barcelona gebe, sagt Tourismus-Geschäftsführer Mathias Schiemer. In Spanien protestierten die Einwohner bekanntlich gegen Touristen. Davon sei Heidelberg weit entfernt, sagt Schiemer. Trotzdem sieht er Handlungsbedarf.

Das Wachstum übertrifft sogar die Erwartungen

Ob in Eckernförde, Heidelberg, Neuschwanstein, Berlin oder an den bayerischen Seen – den boomenden Deutschland-Tourismus bekommen fast alle Urlaubsorte zu spüren. Die Branche freut sich über das neunte Rekordjahr in Folge. Und das Wachstum übertrifft sogar die Erwartungen. Mit einem Plus von zwei Prozent bei den Gästeübernachtungen hatte man für 2018 gerechnet. Nach den bisher vorliegenden Zahlen, die bis Oktober gehen, frohlocken die Anbieter über das Doppelte. Deutschland gehört zu den Top-10-Reisezielen weltweit und hat in der Gunst der ausländischen Besucher enorm zugelegt. Wie stark, zeigt sich im Vergleich mit den Zahlen von vor 25 Jahren. Da registrierte man magere 34 Millionen Übernachtungen ausländischer Gäste, inzwischen sind es 84 Millionen. Und von Stagnation keine Spur: Die Branche rechnet im 2030 mit bis zu 120 Millionen Übernachtungen.

Viele Einheimische kritisieren den massiven Verkehr

Doch seit über ein Zuviel an Urlaubern in Venedig, Amsterdam und auf Mallorca geklagt wird, ist die Freude über das dicke Plus nicht mehr ungetrübt. Die Diskussion, ob es hierzulande schon zu viele Touristen gibt, hat auch in Deutschland begonnen. Auf der am Samstag beginnenden Urlaubsmesse CMT (Camping Motor Touristik) in Stuttgart wird sich ein Expertengremium einen Tag lang nur mit dieser Frage beschäftigen.

Das Ergebnis einer Onlinebefragung unter Touristikern fiel eindeutig aus: Von den 148 Befragten sagten fast alle, dass einige Faktoren des Overtourism bereits spürbar seien. Dazu gehören: die punktuelle Häufung von Menschenmassen, die Senkung der Lebensqualität der Einwohner sowie ein erhöhtes Verkehrsaufkommen.

Vor allem den letzte Punkt sehen die Einheimischen zunehmend problematisch. Das ist in Eckernförde der Fall, aber auch andernorts, etwa am bayerischen Walchensee. In Kochel am See und Jachenau hat sich die Verkehrslage durch den Ansturm von Tagestouristen in den vergangenen fünf Jahren so verschärft, dass Politiker und Touristiker in Workshops nach Lösungen suchen. In Heidelberg ist dem Touristikdirektor Schiemer klar, dass Reisebusse künftig nicht mehr in die Altstadt fahren können: „Wir brauchen Busparkplätze außerhalb.“

In vielen Regionen wären mehr Gäste wünschenswert

Doch von einer generellen touristischen Überlastung ist man in Deutschland nach Ansicht des Kieler Touristikprofessors Martin Lohmann noch weit entfernt. Sicherlich gebe es an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten eine punktuelle Überfüllung, wie etwa in Neuschwanstein oder an manchen Stränden an Nord- und Ostsee. In vielen Regionen Deutschlands ist aber nach wie vor eher das Gegenteil der Fall: Es gibt zu wenig Gäste und ein Mehr wäre wünschenswert. Etwa im Binnenland Schleswig-Holsteins, auf der Schwäbischen Alb und anderen Mittelgebirgen sowie in vielen kleineren Städten. Lohmann hält es für fraglich, ob „protestierende Einwohner ein Beleg dafür sind, dass es ein Zuviel an Touristen gibt“. Die Proteste in Venedig, Barcelona oder Mallorca haben jedoch bestätigt, wovon Lohmann überzeugt ist: „Der Tourismus muss sich so entwickeln, dass Einheimische einverstanden sind.“

Wachstum allein kann künftig nicht mehr oberstes Ziel sein

Fehlende Kommunikation mit den Bürgern und Akteuren eines Urlaubsortes hält auch Frank Behrens von der Wirtschaftsförderung Schleswig-Holstein für die Hauptursache einer aufkeimenden Overtourism-Dikussion. Er berät Gemeinden sowie Investoren bei Hotelprojekten und stellt fest, dass Bürger zurecht fragen, ob man ein neues Hotel wirklich brauche. „Es bedarf aktiver Information“, sagt Behrens. Wie profitiert der Ort von einem touristischen Neubau? Welche Einnahmen stehen in Aussicht? Wie fördern Urlauber den Erhalt von Museen oder die Existenz von Geschäften und Restaurants? Welche Maßnahmen gibt es zur Besucher- und Verkehrslenkung? Und letztlich: Wie viel Tourismus wollen wir überhaupt?

In Eckernförde haben die Bürger kürzlich diese Frage im Rahmen einer Umfrage beantwortet. „Die Mehrheit ist mit dem augenblicklichen Zustand zufrieden“, sagt der Tourismus-Geschäftsführer Stefan Borgmann. Da Wachstum allein künftig nicht mehr oberstes Ziel sein kann, werden in Eckernförde nun Bürger, Touristiker, Politiker und andere Akteure die Tourismusstrategie in einem Prozess nun gemeinsam entwickeln. Solche Verfahren, an denen alle Betroffenen an einen Tisch geholt werden, hält auch der Tourismusförderer Behrens für das richtige Vorgehen: „Wichtig ist, dass touristische Ziele definiert werden, die alle mittragen können.“